kompensieren: Hoher Energieverlust für andere unsichtbar

  • Hallo,


    wir haben hier ein Problem, und ich hoffe auf eine "Schützenhilfe" für gute Formulierungen, vor allem auch vielleicht von Euch, Dario und Lynkas.


    Hans macht ja gute Fortschritte, grade auch in der Schule. In den letzten Zeugnissen steht "freundlich" und "sehr höflich". Parallel zu seinen Fortschritten fing er eben an, mehr zu kompensieren. Zuhause kommen dann mehr Zwängigkeiten dazu, als Versuch zum "Druckausgleich". Das Ausmaß und die Vehemenz dieser Zwängigkeiten ist für mich ein Barometer seiner Belastung, die er den ganzen Tag ansammelt.


    Meine Frage: Wie erkläre ich das seinen Pädagogen, seiner Schulbegleitung? Die sehen ja nur ein Kind, das sich nicht beschwert, das sich nix anmerken lässt, das teils selber einfordert (weil es denkt, das gehört so). Und ein Kind, das ja tatsächlich vieles dringend lernen muss, Lesen, Schreiben, Rechnen (die Förderschuljahre müssen gut genutzt werden).
    Die Energie, die er dabei lässt, die sehen sie nicht, wie auch ... Das sehe ich dann zuhause ...


    Kommt mir ein bisschen vor wie beim Ski-Anfänger, der mit Könnern fährt: Die anderen bleiben stehen und warten, gucken sich die Landschaft derweil an, stehen rum, wenn der Langsame endlich da ist, geht's direkt weiter ... er hat keine Pause :-/


    es gibt bisher keinen guten Blogtext, der GENAU dieses Problem treffend "aufspießt".



    Ich möchte was schreiben, aber ich bräuchte Eure Hilfe (Erfahrungen, Vergleiche, Formulierungen)


    Grüße

    Enscha - mit Hans im Glück (frühkindlicher Autismus, und Pubertät)
    "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative, und eine komische."

    2 Mal editiert, zuletzt von Enscha ()

  • Hi Enscha,


    ich finde dein Beispiel mit dem Skifahrer sogar sehr gut. Jeder war bestimmt schon einmal in einer ähnlichen Situation und weiß, wie beklemmend das ist. Wenn man sich das dann als Permanentzustand vorstellt, bekommt man doch eine gute Ahnung davon, wie es für autistische Menschen "da draußen" sein muss.
    In einem TV-Beitrag hat einmal eine erwachsene Autistin gesagt, sobald sie unter anderen Menschen ist, hat sie das Gefühl, sie müsse in einem Skianzug im Meer schwimmen, oder so.


    LG

  • Hallo!


    Ich kenne das von mir selber sehr gut.


    Um nicht ständig negativem ausgesetzt zu sein (Blicken, Wörter, etc.) tu ich alles, um nicht auf zu fallen. Ich kämpfe und kämpfe, stehe ständig unter Strom so bald ich meine Wohnung verlasse.
    So bald ich dann aber wieder in die Wohnung komme, bin ich dermaßen erschöpft das ich eigentlich schlafen müsste. Gelingt mir aber seit langem nur selten, das ich tatsächlich auch einen Mittagsschlaf mache. Mit dem Ergebnis das ich immer mehr aufdrehe, immer unruhiger war.


    Dieses permanent Anpassen zeigt sich bei mir auch darin, das ich eben innerlich sehr, sehr angespannt bin und teilweise Muskeln verkrampfe.


    Das Beispiel mit dem Skifahren finde ich total super. Während alle anderen ihre Pause hatten, fehlt die Pause. Die anderen aber wollen weiter. Sie wollen nicht noch länger warten. Irgendwie auch verständlich.


    Ich wünschte ich könnte dir irgendwas richtig schlaues dazu schreiben. Aber ich weiß selbst oft nicht, wie ich erklären kann / soll wie anstrengend das für mich ist.
    Menschliche Energie ist so ja nicht messbar...


    Magst du den Blogbeitrag mal verlinken, denn du dazu gefunden hast? Ich würde das gerne lesen...



    LG Trixi

  • Kommt mir ein bisschen vor wie beim Ski-Anfänger, der mit Könnern fährt: Die anderen bleiben stehen und warten, gucken sich die Landschaft derweil an, stehen rum, wenn der Langsame endlich da ist, geht's direkt weiter ... er hat keine Pause :-/


    Enscha, vielen, vielen Dank für dieses wunderbar anschauliche Beispiel. Mir fehlen leider immer die richtigen Worte, die Situation unseres Sohnes zu beschreiben, daher bin ich echt dankbar für solche Formulierungshilfen. <3:)


    Kannst du das nicht den Lehrern und Schulbegleitern genau so erklären? Darunter kann sich doch sicher jeder etwas vorstellen, weil viele von uns schon in einer ähnlichen Situation waren. Für Hans und andere Autisten ist das ja ihr täglich Brot, während andere Menschen nur in Abständen solche Situationen aushalten nüssen. Da müsste anhand deines Beispiels eigentlich jedem klar werden, was dein Hans tagtäglich leistet.

  • Ich habe bei Anita grade einen Post gefunden, der quasi das gleiche Problem unter einem anderen Blickwinkel thematisiert.
    https://autismuskeepcalmandcar…com/2016/10/22/schonraum/
    Ich möchte jetzt aber mal einen glasklaren Text basteln, der exakt das von mir Geschilderte illustriert.


    danke fürs Feedback, wenn Euch der Skifahrer-Vergleich gefällt, kann man den ja schonmal nehmen.



    michie: War das Denise Linke?

    Enscha - mit Hans im Glück (frühkindlicher Autismus, und Pubertät)
    "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative, und eine komische."

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  • Hallo Enscha,
    Du schilderst ein ganz typisches Problem.
    Es fällt unter die Rubrik "Menschen mit Behinderung leisten mehr als Menschen ohne Behinderung", und zwar NICHT so, wie diese Wendung immer verstanden wird.


    Wie kannst Du es den Pädagogen und der Schulbegleitung erklären? Schwierig, denn das Verhalten Deines Kindes gilt in der Gesellschaft/unter Pädagogen als wünschenswertes Verhalten, auf das hin trainiert wird.


    Ich hatte/habe mit demselben Problem die gesamte Schulzeit zu tun. Ohne Nachteilsausgleich, ohne Schulbegleitung, "inkludiert", bevor es den Begriff gab. Ich wurde einfach "mitgeschleppt" als stumme Schülerin, angenehm "pflegeleicht". Das war nicht gut. Jemand hätte es für mich sagen müssen, was los ist, wie es mir ging, was nach der Schule passierte, wie ich außer mich geriet. Es gab niemanden. Es gab Medikamente. Das war nicht gut und so etwas sollte heute frühzeitig aufgefangen werden.


    Bei Hans gibt es Dich.
    Du bist nicht die "überbehütende Mutter", sondern du bist die Mutter, die ihrem Kind das beste Leben ermöglichen will.
    Es hilft nur: sagen, sagen, sagen. Schildern, was Dein Kind (noch) nicht selbst schildern kann. Die richtigen Worte? Schwierig. Ich hatte sie erst später, als ich aufgetaut bin aus der Erstarrung meiner Schulzeit.


    Inklusion (und das kannst Du den Pädagogen ja auch sagen), bedeutet ja NICHT, dass dein Sohn sich bis zur Selbstverleugnung an alles anpasst (ich vermeide jetzt mal die Formulierung "an die Gesellschaft anpasst").


    Viele Menschen mit Autismus werden gute "Schauspieler". Ich z.B. bin auf "Außenwirkung" gedrillt und kann sagen: es war der falsche Weg. Ich agiere nach angelesenen Mustern, wie nach Drehbüchern. Leider müssen die anderen dann auch nach diesen Drehbüchern agieren. Ich habe immer mehrere mögliche Szenarien im Kopf, aber manchmal passt keins. Und ständig das Drehbuch wechseln kostet auch immer viel Energie.


    Wenn der Energieverlust, die Zwängigkeiten und dieses "sich nichts anmerken lassen" bei Deinem Sohn für Dich schon so sehr sichtbar sind, besteht Handlungsbedarf. Und Du bist die am dichtesten stehende Beobachterin, die Mutter. So dicht wird wohl kein Pädagoge oder Schulbegleiter herankommen.


    Die Pädagogen sollen Dein Kind aufs Leben vorbereiten bzw. ihm beim jetzigen Leben helfen, ihm "Werkzeuge an die Hand geben". Wenn sie nicht gerade Anhänger von ABA sind, darf es nicht in ihrem Sinne sein, Kinder zu dressieren, zu einem "Maskenspiel". Zuhause fällt dann die Maske. Das darf denen nicht egal sein.


    Ich habe vieles im Kopf, und schon in der Schule hatte ich was im Kopf, aber mein "Energietank" für das Leben ist nicht so groß wie der von Menschen ohne meine Behinderungen.
    Ich habe dazu auch mal etwas geschrieben.
    https://1satz.wordpress.com/category/energie/
    Die Beiträge erscheinen rückwärts chronologisch.



    Lynkas grüßt.

  • Halle Enscha,


    Meine Frage: Wie erkläre ich das seinen Pädagogen, seiner Schulbegleitung? Die sehen ja nur ein Kind, das sich nicht beschwert, das sich nix anmerken lässt, das teils selber einfordert (weil es denkt, das gehört so). Und ein Kind, das ja tatsächlich vieles dringend lernen muss, Lesen, Schreiben, Rechnen (die Förderschuljahre müssen gut genutzt werden).
    Die Energie, die er dabei lässt, die sehen sie nicht, wie auch ... Das sehe ich dann zuhause ...


    dieses Phänomen ist nicht neu.


    http://blog.realitaetsfilter.c…/05/16/energiemanagement/ vielleicht hilft Dir dieser Text?


    https://www.facebook.com/notes…eltheorie/485732834825776 oder dieser?


    Es geht ja darum, ein Bild zu finden, wenn ich Dich richtig verstehe, dass den Außenstehenden die Problematik erklärt.


    https://autismuskeepcalmandcar…0/19/immer-diese-wechsel/ dieser Text reißt das Thema auch kurz an.


    LG Anita

    *1996 Sohn F84.5G (2010) HB
    *1998 Tochter F84.5G (2013), Knick-Senk-Füße
    *2002 Tochter F84.1G(2014), F90G (2011), HB, Hornhautverkrümmung
    *2007 Sohn F84.5G, F90G, F83, HB (2012)


    Hinzufallen ist keine Schande, liegen bleiben aber schon

    #NoABA #FragtWarum

  • Danke für Eure Posts, da steckt sehr vieles drin für uns.


    Zitat von Lynkas

    Schwierig, denn das Verhalten Deines Kindes gilt in der Gesellschaft/unter Pädagogen als wünschenswertes Verhalten, auf das hin trainiert wird.

    Ja, genau. Und es ist ja auch sehr wichtig, dass er jetzt vieles lernt, denn wir wissen alle, dass er als Erwachsener diesen günstigen Betreuungsschlüssel, die viele pädagogische Aufmerksamkeit nicht mehr haben wird.
    Die Zeit läuft, quasi - aber so darf man das nicht sehen, denn das würde wiederum Druck erzeugen.
    Ich bin natürlich am nächsten dran, und sehe die Belastung, die andere nicht sehen. Die mit dem pädagogischen Blick sehen dafür Möglichkeiten, die ich nicht sehe. (ZB hat man ihm letztes Jahr ein Brettspiel gelernt, er hat "Ihr zuliebe" mitmachen sollen, hat es auch getan, fand ich nicht gut, denn er war dann sehr gestresst zuhause. Nun kann er es aber, und spielt von sich aus mit einem anderen Kind das Brettspiel) Ich will die Balance da möglichst gut halten - eben, er braucht immer einen Löffel in Reserve, immer die Restladezeit im Blick haben. Zumal die Zwanghaftigkeiten, wenn er sie zuhause auspackt, das Aufladen erschweren, statt erleichtern.


    das ist schon auch ein bisschen wie Hase und Schildkröte: Zwei verschiedene Filmgeschwindigkeiten, da kann der Schnelle nur begrenzt nachvollziehen ...
    wenn ich bei der Fee einen Wunsch frei hätte, dann würde ich Hans vielleicht wünschen, dass er für seine ersten zwanzig Jahre dreißig Jahre Zeit hat ...

    Enscha - mit Hans im Glück (frühkindlicher Autismus, und Pubertät)
    "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative, und eine komische."

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  • dass er für seine ersten zwanzig Jahre dreißig Jahre Zeit hat ...


    Enscha, das kann ich sehr gut nachempfinden. Das wünsche ich meinem kleinen Prinzen auch.


    Ich glaube, dass der kleine Prinz auch im Kindergarten sehr viel Energie lässt fürs Kompensieren. Wenn ich ihn abhole, dann sitzt er immer auf dem selben Platz und spielt mit den Duplotieren, alleine. Er nimmt sich aber auch schon das eine oder andere Spielzeug dort, und bei den Gruppenaktivitäten macht er immer mit. Die sehr feinfühlige Pädagogin sagt, dass er da dabei sein will, und dass sie schon merkt, dass dieses ganze Soziale ihm extrem viel abverlangt. Sie freut sich selbst so, dass er bei den Liedern oft schon mitsingt und mitklatscht ...


    Natürlich freue ich mich auch total, vor allem für ihn, weil er ja gerne hingeht, aber dass es dann doch so extrem anstrengend ist für ihn, das hätte ich gerne anders für ihn.

  • Trixi

    Hat das Label Autismus hinzugefügt.