Barrierefreiheit für Autisten

  • Barrierefreiheit ist auch für Autisten sehr wichtig, wird aber leider unterschätzt und oftmals nicht gewährt.
    Was würdet ihr euch für eure Kinder oder als Selbstbetroffene wünschen? Was braucht ihr im Alltag, in der Schule, im Kindergarten und auf der Arbeit?
    Was läuft schon gut und wo lässt die Barrierefreiheit zu wünschen übrig?

  • Hallo Ella,


    das spricht du ein ganz weites und wichtiges Feld an, über das viel erzählen könnte - viel zu viel für einen einzigen Thread.


    Ganz grob kann ich sagen: Für mich privat, in meiner eigenen Wohnung und in der Freizeit, komme ich heute einigermaßen zurecht. Den größten Stress habe ich immer noch auf der Arbeit; wobei ich Vorgesetzte habe, die schon einigermaßen tolerant und verständnisvoll sind, deshalb will ich mich gar nicht beschweren oder irgendwem Vorwürfe machen.


    Trotzdem sind Multitasking, Stress und Hektik, unvorhergesehen Zwischenfälle und spontane Improvisationen, aber auch unklare oder zweideutige Arbeitsanweisungen, immer noch ein Problem für mich. Bis zu einem bestimmten Grad konnte ich mich daran gewöhnen, aber ich stoße immer noch recht schnell an meine Grenzen, viel schneller als meine Kollegen. Ich würde mir schon wünschen, dass man bei der Arbeitsplatzgestaltung (wo immer das möglich ist) noch ein wenig mehr Rücksicht nehmen kann auf die besonderen Bedürfnisse der Autisten, mit all ihren Schwächen und Stärken. Da sehe ich auch in meinem Fall noch Verbesserungsbedarf.


    Anderseits bedeutet mir der Arbeitsplatz (an dem ich jetzt schon 10 Jahre beschäftigt bin) unglaublich viel und er hat mir auch viel gegeben. Deshalb bin ich immer bemüht, möglichst diplomatisch vorzugehen (im Zweifel zusammen mit dem Betriebsarzt), ohne Vorwürfe zu erheben oder irgendwie anklagend zu wirken. Andererseits muss ich natürlich auch meine eigenen Bedürfnisse und Grenzen im Auge halten - und auch sagen, wenn ich irgendwo Hilfe und besondere Unterstützung brauche. Bislang konnte ich diese beiden Seiten immer einigermaßen austarieren und ich hoffe, dass das auch in Zukunft so bleibt.


    Mir ist bewusst, dass ich sicher auch riesengroßes Glück hatte, dass ich jetzt seit über 10 Jahren auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt bin. Das gelingt ja nur wenigen Autisten. Ich kenne viele, die sich jahrelang verzweifelt um einen Arbeitsplatz darum bemühen, aber immer wieder daran scheitern und realistisch betrachte auch nur wenig Chancen haben.


    Autismusgerechte Arbeitsplatzbedingungen sehe ich als ein ganz großes Feld, auf dem es noch viel zu verbessern gibt. Ein anderer großer Bereich ist sicher die Situation autistischer Schuldkinder, wo sich auch dringen noch eine ganze Menge tun muss. Allerdings bin da nicht so gut im Bilde, da meine eigene Schulzeit schon lange zurückliegt und ich selbst keine Kinder habe.


    Schule und Arbeit sind die beiden Lebensbereiche, wo man sich (viel mehr als im Privatleben) anpassen und vorgegeben Regeln unterordnen muss. Das fällt gerade autistischen Menschen besonders schwer, so dass es nur logisch ist, dass viele Autisten gerade dort vor den größten (und oft noch unüberwindbaren) Barrieren stehen. Ich finde, es darf in Zukunft keine Glückssache mehr sein – und auch nicht vom persönlichen Wohlwollen eines einzelnen Unternehmers abhängen – ob eine autistischer Mensch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommt oder nicht.


    Es muss selbstverständlich werden, dass alle Menschen ihre faire Chance bekommen. Völlig egal, ob sie behindert sind oder nicht, Es wird hoffentlich irgendwann nicht mehr so sein, dass Menschen aus der Gesellschaft (und von der Teilhabe am Arbeitsmarkt) ausgrenzt werden, nur weil sie nicht in irgendeine vermeintliche „Norm“ passen.

  • Dario, danke für deinen Beitrag. Du hattest wirklich großes Glück mit deiner Arbeitsstelle.
    Wo gibt es autismusgerechte Arbeitsplätze? Das ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
    Barrierefreiheit bezieht sich überwiegend auf Menschen mit einer Körperbehinderung.
    Dass es auch Barrierefreiheit für Menschen mit einer geistigen Behinderung für Autisten und natürlich für ALLE Menschen mit Behinderung geben muss, ist noch nicht bei den Leuten angekommen.


    Schule und Arbeit können für Autisten eine sehr große Belastung darstellen.
    Mein Sohn hat oft Probleme in der Werkstatt. Manche Gruppensituationen überfordern ihn und er erträgt seit Neuestem keine Lautstärke mehr.
    Es kommt immer wieder zu Problemen, weil die Betreuer sich nicht so gut mit Autismus auskennen, aber ich muss sagen, dass sie trotz allem glücklicherweise sehr verständnisvoll, lernfähig und engagiert sind. Das ist schon sehr viel wert.


    Leider ist es so, dass sich die Zusammenarbeit mit seinen Werkstattkollegen, die ja auch alle eine Behinderung haben, sehr schwierig gestaltet, da sie auf die Bedürfnisse meines Sohnes kaum reagieren bzw. Rücksicht nehmen können, jedenfalls nicht so, wie er es bräuchte und da er es umgekehrt auch nicht kann, kommt es immer wieder zu großen Problemen im sozialen Miteinander.

  • Hallo,
    ich trau mich mal als nicht Autismus Expertin eine spontane Frage beizutragen, die mich grad spontan beim Lesen überkam...:


    ist nicht der optimale Arbeitsplatz für einen Autisten auch ein besserer Arbeitsplatz für alle anderen Mitarbeiter???


    Ich meine, es gibt viele Anforderungen, die auch nicht autistische Menschen im Berufsleben belasten.
    Beim einen ist es das Multitasking, beim nächsten der "Stress", die Arbeitsdichte, die zweideutigen Aufträge oder die Frage, was man wirklich tun sollte um dem "Idealen Mitarbeiter" bestmöglich zu entsprechen... sofern man dies denn möchte/sollte...


    Die oftmals mangelnde Rücksichtnahme auf den einzelnen/ das "Selbst" mit seinen Eigenheiten/ Möglichkeiten und Gefühlen macht sicher ebenfalls vielen zu schaffen.


    Je leistungsorientierte der Beruf ausgerichtet ist, desto stärker dürften die Belastungen für viele Mitarbeiter werden.


    Wir haben aktuell einen hohen Krankenstand in den Bereichen der psychischen-/ Belastungs- Krankheitsbilder zu verzeichnen...


    insofern nochmals: würde die optimale Ausgestaltung in Richtung Autismus nicht eigentlich ALLEN Mitarbeitern zu Gute kommen und wäre damit eigentlich vielfach auch nur eine "menschlichere" ???


    J
    onna
    ~~~~~~~~~~
    mit Jesper und Felix *2006 (Down Syndrom PLUS, gehörlos und weitere Baustellchen...)




  • Jonna, du hast absolut Recht! Barrierefreiheit für Autisten würde ALLEN Menschen zugute kommen, so wie die Inklusion ebenfalls ALLEN Menschen zugute kommen würde.


    Der Arbeitsmarkt wird immer leistungsorientierter. Erst vorhin habe ich im Radio gehört, dass immer mehr Menschen auch an Feiertagen und Wochenenden arbeiten und per PC und Mobiltelefon ständig erreichbar sein müssen.
    Viele Menschen halten diese hohe Belastung einfach nicht mehr aus.

  • Wenn um Inklusion und Barriefeiheit für Autisten geht, scheint es leider nicht nur Erfolge zu geben, sondern mitunter auch herbe Rückschläge. Ich war z.B. richtig geschockt, als sich das bekannte Hamburger Projekt Autworker nach gut sieben Jahren wieder aufgelöst hat:


    http://www.autsocial.de/index.php/autworker.html


    Autworker war in der Hamburger Autismus-Szene ein fester Begriff, hatte sich einen guten Ruf erworben und sich einem überaus wichtigen Thema gewidmet; nämlich der Integration bzw. Inklusion autistischer Menschen in den Arbeitsmarkt. Autworker hat (vor allem in ehrenamtlicher Arbeit) viel geleistet, hat Vorträge, Workshops und persönliche Beratungen abgehalten, konnte (soweit mir bekannt) einzelne autistische Menschen sogar in konkrete Arbeitsplätze vermitteln.


    Für mich kam die Auflösung zum Mai 2016 völlig überraschand. Vor allem die Begründung für das Scheitern, wenn Autworker von "zunehmender Exklusion" und der "mangelnden Inklusionsfähigkeit der nicht-autistischen Mehrheitsgesellschaft" spricht, ist alles andere als ermutigend. Mir tut das vor allem für Projektgründer Hajo Seng sehr leid. Ich kenne ihn persönlich und weiß, dass Autworker sein Lebenswerk war. Dass dieses Lebenswerk auf so eine Weise scheitert, hat er nicht verdient.


    Wenigstens lebt ein Teil des Engagements und der gesammelten Erfahrungen im Verein "Autsocial" weiter, trotzdem ist das Scheitern von Autwortker ein schmerzlicher Rückschlag in Sachen Inklusion und Barriefeiheit autistischer Menschen. Arbeitsloskeit und fehlende berufliche Chancen sind unter erwachsenen Autisten ein immenses Problem, da kann es gar nicht genug Initiativen geben, die sich diesem Problem widmen. Stattdessen ist es nun ein Projekt weniger, für das ich so schnell keinen Ersatz sehe. :(

  • Dario, danke für diese Information. Das wusste ich noch nicht.
    Das ist sehr bitter. Vor allem dieser Satz auf der von dir verlinkten Homepage von autsocial ist niederschmetternd:
    Zitat: "Als Fazit müssen wir sagen, dass unsere Arbeit an der mangelnden
    Inklusionsfähigkeit der nicht-autistischen Mehrheitsgesellschaft
    gescheitert ist." Zitatende

  • Das ist es ja: Man muss aufpassen, dass "Inklusion" und "Bariefreiheit" nicht zu hohlen Phrasen werden, die irgendwann nur noch Alibi-Funktion haben, während die wirklichen Verhältnisse sich in genau die Gegenrichtung bewegen.


    Wenn man liest, wie es Autworker ergangen ist, dann drängt sich leider der Eindruck auf, als wenn der Rechtanspruch auf Inklusion nur eine Art "Opium fürs Volk" ist, mit dem man behinderte Menschen und ihre Angehörigen ruhig halten will, während sich in Wahrheit kaum etwas tut.


    Machmal habe ich den Eindruck, die gesellschaftlichen Organe (Politik, Wirtschaft, Verwaltung, aber auch die "Menschen auf der Straße") sind für wirkliche Inklusion noch lange nicht bereit. Es gibt zwar einen Rechtanspruch auf Inklusion, aber ich behaupte, ein Rechtsanspruch, der nur auf dem Papier besteht, wird nicht weit reichen, solange die Menschen nicht auch von innen heraus begriffen haben, was Inklusion bedeutet und wie die Gesellschaft als Ganzes alle davon profitieren kann. Die dazu notwendige Aufklärungsarbeit und Bewustseinsbildung ist meiner Meinung nach versäumt worden, deshalb ist Inklusion bis heute in bürokratischer, seelenloser "Papiertiger" gebleiben.

  • Hallo Dario!


    Da sprichst du ein Thema an, das mich gerade echt sehr beschäftigt. Mein kleiner Prinz ist seit Montag im Kindergarten als I-Kind. Morgen ist Elternabend, und damit nicht getuschelt wird bzw. die Eltern wissen, was sie ihren Kindern sagen sollen, falls diese zu Hause Fragen zu meinem Kind stellen, hat mich die Leiterin gebeten, ein paar Worte über meinen Sohn zu sagen. Ich versuche nun das knapp und greifbar und positiv zu formulieren, wie wertvoll es für alle Kinder ist, wenn Inklusion gelebt wird. Aber irgendwie mag es mir gerade nicht gelingen ... Tipps und Hilfestellungen sehr herzlich willkommen! :)

  • Ich versuche nun das knapp und greifbar und positiv zu formulieren, wie wertvoll es für alle Kinder ist, wenn Inklusion gelebt wird. Aber irgendwie mag es mir gerade nicht gelingen ... Tipps und Hilfestellungen sehr herzlich willkommen!


    michie, kannst du das nicht gemeinsam mit der Erzieherin besprechen? Gemeinsam könnt ihr dann ein kleine Vorstellung planen.
    Nichtbehinderte Kinder profiteren in der Inklusion von der reduzierten Gruppengröße, dem höheren Personalschlüssel und den Angeboten z.B. in einer Kleingruppe. Diese Argumente kommen bei den Eltern meist gut an.
    Die sozial-emotionalen Kompetenzen werden ebenfalls gestärkt. Das hören Eltern meist auch immer recht gerne.
    In der Inklusion werden die Bedingungen für alle besser, weil jeder in seiner Individualität geachtet wird.
    In welchem Umfang profitiert dein Kind von der Inklusion? Das kannst du vielleicht auch noch kurz anreißen.

  • Trixi

    Hat das Label Autismus hinzugefügt.