Inklusion, volle Teihabe und Selbstbestimmung - ausverschämt und überzogen?

  • Wir kämpfen schon sehr, sehr lange um gute Bedingungen für unseren Sohn in allen möglichen Bereichen, aber immer wird uns das Gefühl vermittelt, unsere Wünsche wären ausverschämt und unsere Ansprüche überzogen.
    Jüngst erst wieder geschehen auf der Suche nach einem WG Platz.
    Selbstbestimmung? Fehlanzeige! Teilhabe am Leben und individuelle Freizeitgestaltung? Aber bitte nur solange, wie es ins Konzept passt. Alles was darüber gefordert wird ist ausverschämt.


    Freizeitgestaltung, Abnabelung vom Elternhaus und Auswahl bei der Wohnsituation? Na, wo gibt´s denn sowas? Das Sozialamt bestimmt, wo es langgeht und wie viel Selbstbestimmung gewährt wird, weil es als Geldgeber für Hilfen überall seine Finger mit im Spiel und somit maßgeblichen Einfluss auf unser aller Leben hat. Freie Entscheidungen? Nein! Wo kommen wir denn da hin!
    Dankbarkeit bitte!


    So zieht sich das durch das Leben.
    An Inklusion ist nicht zu denken und an Selbstbestimmung schon gar nicht.
    Uns wird vermittelt, dass es überzogen und ausverschämt ist, volle Teilhabe und Selbstbestimmung einzufordern.
    Wer darf das Maß an Teilhabe bestimmen? Mein Sohn jedenfalls nicht! Das Maß an Teilhabe und Selbstbestimmung bestimmen fremde Menschen und wenn diese Menschen meinen, das Maß ist voll, dann ist das Maß eben voll.


    Menschen wie mein Sohn kosten der Gesellschaft zu viel Geld, daher werden ihm volle Teilhabe und Inklusion verweigert.
    Inklusion und Teilhabe werden oft als ausverschämt und überzogen angesehen.
    Das lese ich leider auch sehr oft in Leserkommentaren im Internet.


    Ich frage: Sind Inklusion, volle Teilhabe und Selbstbestimmung ausverschämt und überzogen?
    Wer bestimmt das Maß?

  • Ich glaube, 100%ige Selbstbestimmung wird nicht funktionieren, wenn man auf Hilfe angewiesen ist. Denn auch die Hilfe muss angepasst und organisiert werden.
    ABER ich bin überzeugt davon, dass es sich viele deutlich zu einfach machen und erwarten das jegliche Selbstbestimmung aufgegeben wird.


    Unverschämt finde ich, was viele so verlangen... Anpassung an die Gesellschaft auf der einen Seite bis zur völligen Überforderung und damit Ausgrenzung, aber gleichzeitig entsteht bei mir oft der Eindruck das wenig zurück gegeben wird.
    Ich glaube, wer nicht gerade Millionär oder ähnliches ist hat keine Chance wirklich Selbstbestimmung zu haben und teilhaben zu können.


    Ach und was ich mit dieser 100%igen Selbstbestimmung die so ja nicht funktionieren kann (meiner Logik nach) meine ist eben, das man schauen muss das es eben entsprechende Hilfe gibt, die auch organisiert werden müssen etc. Da muss man auch ein wenig Rücksicht auf die anderen nehmen. Aber ich glaube kein Mensch mit Behinderung und Hilfebedarf wird verlangen das sich die Welt um diesen Menschen dreht. Ich selber würde das nicht tun.


    Also wenn ich jetzt z.B. jemand brauche der mit mir dieses oder jenes tut, weil es alleine nicht geht, der Helfer aber vielleicht nicht heute sondern erst morgen dafür Zeit habe, dann ist es für mich selber völlig in Ordnung einen Tag zu warten (wenn es nicht gerade etwas lebensbedrohliches ist, das sofort gehandelt werden muss).

  • Ich glaube, 100%ige Selbstbestimmung wird nicht funktionieren, wenn man auf Hilfe angewiesen ist


    Das sehe ich auch so und das ist auch nicht unser Anspruch.


    Da muss man auch ein wenig Rücksicht auf die anderen nehmen. Aber ich glaube kein Mensch mit Behinderung und Hilfebedarf wird verlangen das sich die Welt um diesen Menschen dreht. Ich selber würde das nicht tun.


    Ich stimme dir zu. Es ist ein Geben und Nehmen.


    Also wenn ich jetzt z.B. jemand brauche der mit mir dieses oder jenes tut, weil es alleine nicht geht, der Helfer aber vielleicht nicht heute sondern erst morgen dafür Zeit habe, dann ist es für mich selber völlig in Ordnung einen Tag zu warten (wenn es nicht gerade etwas lebensbedrohliches ist, das sofort gehandelt werden muss).


    Das ist doch selbstverständlich. Eigentlich völlig normal.....
    Selbstbestimmung heißt ja nicht, dass alle nach meiner Pfeife tanzen müssen.


    ABER ich bin überzeugt davon, dass es sich viele deutlich zu einfach machen und erwarten das jegliche Selbstbestimmung aufgegeben wird.


    Das ist immer wieder das Problem.

  • Es ist wirklich traurig.
    Dabei müsste ein selbstbestimmtes Leben nicht mal wahnsinnig teuer sein oder so...


    Also wenn ich jetzt von einer großen / größeren Stadt ausgehe, dann sind da garantiert mehrere Menschen die Hilfe brauchen. Es müsste nur mal jemand so schlau sein und eine übergeordnete Stelle schaffen, wo sich Menschen mit Hilfebedarf und Helfer treffen. Wenn jetzt z.B. 3 Menschen mit Hilfebedarf sagen sie möchten gerne ins Kino gehen und Film X sehen, dann ist es doch sicher möglich dafür 1 oder 2 Helfer zu finden, die nach einem gemeinsamen Termin schauen und dass dann entsprechend tun.
    Klar, es bleibt dann eben keine 100%ige Selbstbestimmung. Aber ich glaube, dass so ein System wirklich funktionieren könnte. Wäre zwar nicht vollkommen spontan, aber so könnte man ja auch Geld sparen, wenn statt 3 Helfern eben nur 2 oder 1 Helfer mit gehen müsste (je nach dem was für Hilfe im einzelnen benötigt wird).
    Ich glaube nur, auf so schlaue Ideen kommen die Leute die ganz oben sitzen und darüber zu entscheiden haben gar nicht.

  • Hallo Trixi,

    Also wenn ich jetzt von einer großen / größeren Stadt ausgehe, dann sind da garantiert mehrere Menschen die Hilfe brauchen. Es müsste nur mal jemand so schlau sein und eine übergeordnete Stelle schaffen, wo sich Menschen mit Hilfebedarf und Helfer treffen. Wenn jetzt z.B. 3 Menschen mit Hilfebedarf sagen sie möchten gerne ins Kino gehen und Film X sehen, dann ist es doch sicher möglich dafür 1 oder 2 Helfer zu finden, die nach einem gemeinsamen Termin schauen und dass dann entsprechend tun.


    Hast Du Dich eigentlich schon mal mit dem neuen Teilhabegesetz auseinandergesetzt? Ich dachte schon ?(
    Aber was Du da vorschlägst, nennt man "Pooling" und dieses Pooling ist ganz und gar keine gute Idee und eines der Hauptargumente, warum das neue Teilhabegesetz von so vielen Menschen mit Behinderung abgelehnt wird.
    Möchtest Du immer im Konvoi mit anderen Behinderten ins Kino gehen? Immer warten, bis zufällig auch andere in das Theaterstück gehen wollen, in das Du gehen willst? Oder möchtest Du in den Kinofilm gehen, den zufällig die meisten Leute sehen wollen? Du musst dann nur mit Menschen verschiedenster Behinderungen ins Kino gehen, eine Freundin von Dir oder Dein Mann darf dann übrigens nicht mitgehen, außer, sie fallen auch unter die Hilfebedarfsregelung.

    Wäre zwar nicht vollkommen spontan, aber so könnte man ja auch Geld sparen, wenn statt 3 Helfern eben nur 2 oder 1 Helfer mit gehen müsste (je nach dem was für Hilfe im einzelnen benötigt wird).


    Das nennt man Personaleinsparung. Ist das eine gute Idee? Ich finde nicht.


    Lynkas grüßt.

  • Lynkas, ja da hast du natürlich recht und solches Pooling ist natürlich nicht erstrebenswert und abzulehnen. Gut, dass du darauf hinweist!
    Ich fände schön, wenn man Trixis Idee etwas weiterspinnen und verbessern würde. Vom Ansatz her ist es eine gute Idee.


    Ich möchte bei dieser Idee das Sozialamt oder andere Kostenträger heraushalten, denn Teilhabe und Selbstbestimmung muss auch mal ohne Kämpfe und Abhängigkeiten von Kostenträgern funktionieren, was natürlich nicht bedeuten darf, dass Kostenträger von ihren Pflichten befreit werden.


    Ich nenne es mal "Inklusive Nachbarschaftshilfe im Kiez".....also z.B.
    -Gehe ins Kino - Wer kommt mit?
    -Erledige Einkäufe - Brauche im Gegenzug Nachhilfe in Deutsch, Englisch.....
    -Wer kommt mit zur Veranstaltung XY?
    -Wer begleitet mich zum Friseur/ Arzt/ ins Schwimmbad....?
    -Biete Betreuung - Brauche Hilfe bei der Gartenarbeit


    So etwas könnte man mit etwas Engagement durchaus organisieren und es gibt sicher Menschen, die gerne etwas mit anderen Menschen, die eine Behinderung haben, unternehmen. Man muss sich nur gegenseitig finden und da fände ich eine zentrale Anlaufstelle gut.

  • Lynkas, so hab ich das Pooling nicht gemeint. Also das man Zwangspooling veranstalten muss und so wie dass das Teilhabegesetz will.
    Ich meinte es eher so das wenn eben z.B. 3 Leute unabhängig von einander in diesen einen Kinofilm gehen möchte, das man dann eben schauen könnte ob man da nicht gemeinsam auf Hilfe zurück greift.
    Nicht aber das man in einen Film muss, nur weil die Mehrheit da rein möchte.

  • Trixi, ja, so wie Ella das nochmal spezifiziert hat.
    So etwas bietet auch z.B. meine Kirche an, aber irgendwie ist das immer nur für ältere Leute und beschränkt sich auf "Zeitungvorlesen" oder "für jemanden einkaufen".
    Für mich ist bei so was auch immer die Schwelle zu hoch. Da wird mir gesagt: "Ja was sind jetzt genau Ihre Erwartungen?" und wenn ich dann nicht genug sagen kann oder wieder nicht verstanden werde oder dreist rüberkomme (passiert!)....hm, Kontakte und Freunde kann man sich wohl nicht kaufen oder auf diese Weise ermöglichen. Es ist alles immer nur "Assistenz", und ob die Assistenten passen, das ist Gutglück.
    Genau DAS belastet mich halt, dass ich nehmen muss, was ich bekomme, schnell und präzise "Zielvorstellungen" formulieren muss, es irgendwie schwer verständlich scheint, dass ich (mit Hilfe aber OHNE Bevormundung) das Gleiche machen will, wie Menschen ohne meine Behinderung. Wenn ich das formuliere, dann ist das - wie Ella in ihrem ersten Beitrag sagt - unverschämt. So nach dem Motto: ja du bist doch behindert, also da musst Du wollen, was die "Helferlobby" sich "Schönes" für dich ausgedacht hat, entweder, du gehst den Weg, den wir als selbstbestimmt definiert haben, oder du gehst ohne uns.


    Lynkas grüßt.

  • Lynkas ich kann dich da sehr gut verstehen...
    Vor diesen und ähnlichen Problemen stand ich auch immer wieder.... Ich bin schon gespannt wie es bei mir jetzt wird, da ich mein Leben neu organisieren muss und wieder auf viele Hilfen angewiesen sein werde.


    Es ist selbst dann total frustrierend, wenn ich klar formulieren kann was ich für Hilfe brauche. Da kommt dann auch immer so Sachen wie "Ja, aber so geht das nicht", "Das können wir so nicht machen", usw...
    Mir selber ist NICHT verständlich warum das alles so unverschämt sein soll oder warum das alles scheinbar so kompliziert ist. *seufz*

  • Hallo Ella,


    das hier http://rock-music.net/inklusion-muss-laut-sein/ kennst Du?


    Das ist nur ein Beispiel, was bereits angestoßen wurde. Auf privater Basis.


    LG Anita

    *1996 Sohn F84.5G (2010) HB
    *1998 Tochter F84.5G (2013), Knick-Senk-Füße
    *2002 Tochter F84.1G(2014), F90G (2011), HB, Hornhautverkrümmung
    *2007 Sohn F84.5G, F90G, F83, HB (2012)


    Hinzufallen ist keine Schande, liegen bleiben aber schon

    #NoABA #FragtWarum

  • Hallo Ella,
    das hier rock-music.net/inklusion-muss-laut-sein/ kennst Du?


    Anita, danke! :) Das ist ein wirklich tolles Projekt....kannte ich noch gar nicht.


    So nach dem Motto: ja du bist doch behindert, also da musst Du wollen, was die "Helferlobby" sich "Schönes" für dich ausgedacht hat, entweder, du gehst den Weg, den wir als selbstbestimmt definiert haben, oder du gehst ohne uns.


    Genau so ist es. Das sind leider auch unsere Erfahrungen.

  • So nach dem Motto: ja du bist doch behindert, also da musst Du wollen, was die "Helferlobby" sich "Schönes" für dich ausgedacht hat, entweder, du gehst den Weg, den wir als selbstbestimmt definiert haben, oder du gehst ohne uns.


    Genau so ist es. Das sind leider auch unsere Erfahrungen.
    [/quote]



    Ich denke , das Qualität von Betreuung nur sichergestellt werden kann, wenn es einheitliche klar( von Betroffenen) formulierte Standarts gibt , gleichzeitig für jeden Verstoß sofort Beschwerde erfolgen kann einerseits und Sanktionen erfolgen andererseits.
    Ich denke auch, das es nicht notwendig ist, für Fachpersonal das Rad jedes mal neu zu erfinden ,in dem man auf Selbstverständlichkeiten wie Selbstbestimmung hinweisen muss.
    Es ist wirklich bitter, wie Abhängigkeiten von der Helferlobby instrumentalisiert und ausgenutzt werden.


    L.G.

  • Ich muss ehrlich gestehen, unabhängig vom Thema jetzt, das ich es immer schon sehr befremdlich fand das Leute über Dinge entscheiden die damit gar nichts oder nichts mehr zu tun haben. Die sind ja fern jeglicher Realität, weil die ganzen Sachen von ihnen selbst so weit fern sind.


    Gerade beim Thema Inklusion und Teilhabe kommen diejenigen die es eigentlich selber betrifft ja kaum zu Wort bzw. werden gar nicht erst gehört. Entscheiden tun andere, die damit am schlimmsten Fall noch nie irgendeine Berührung hatten und sich das gar nicht vorstellen können.
    Gut gemeint kann eben trotzdem der größte Mist sein!