Hallo, ihr Lieben,
als ich vorhin das mit dem "Recht auf Selbstbestimmung" oder eher "Recht auf Verwahrlosung" gelesen habe, da musste ich auch schlucken. Denn unsere Familie treiben diese Ängste auch gerade um. Immerhin verlangte das Jugendamt ja schon bei dem damals 16jährigen, er möge doch mal langsam selbstständig werden. Häh? Selbstständig? Ein hochfunktionaler Autist mit extrem traumatischen Erfahrungen, kurz vor einer schweren Depression? Darf der nicht erst mal wieder gesund werden, um erneut ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können - in vertrauter Umgebung -, bevor man an das Thema Selbstständigkeit geht?
Doch diese Überlegungen waren vom JA nicht gewünscht, denn Eltern die so denken, sind wohl kindeswohlgefährdend und denen gehört das Kind weggenommen und in eine Einrichtung gesteckt, damit es dort endlich mal selbstständig wird. Dass aber ein Autist kein üblicher Jugendlicher ist, sondern bei hochfunktionierenden Autisten es eh bis etwa zum 30. Geburtstag dauert, bis sie all das gelernt haben können, was für Selbstständigkeit und Selbstbestimmung notwendig ist, an so was denkt ein Amt nicht.
Die bieten sogar für einen Studenten, der ähnlich gestrickt ist wie Ellas Sohn - in Bezug auf die Planung des Tagesablaufes - nur lächerliche 7 Stunden Eingliederungshilfe, um einen Studienassistenten zu finanzieren. 7 Stunden? Die Arbeitszeit eines Erstsemesters, um einigermaßen das Studium absolvieren zu können, beträgt bei Informatikern 44 Stunden. Da kann man als behinderter Mensch gleich zu Hause bleiben. Was heißt, dass man auch gleich das Studium in die Tonne kloppen kann, denn leider bietet von vier Professoren in unserem Fall nur einer die Möglichkeit, ordentliche Vorlesungsfolien zu bekommen und sogar die Vorlesungen per mp-4 nachträglich bearbeiten zu können. Der bietet sogar Lösungen für die Hausaufgaben und Lösungen für die Übungsaufgaben. Als einziger. Müsste also heißen: Ade Informatikstudium, ade erster Arbeitsmarkt als Top-Programmierer mit Studienabschluss.
Wenn, ja wenn wir uns nicht eine andere Lösung überlegt hätten - hoffentlich nicht bis zum 30. Lebensjahr
Wir bilden eine WG am Studienort, ich bin als Pflegeperson dort und erfülle damit meine gesetzlichen Pflichten. Zudem bin ich Studienassistenz und versuche, irgendwie alles zu managen, dass ein Studium irgendwie möglich ist: und letztendlich trainieren wir Selbstständigkeit: üben rauszugehen, üben einzukaufen, üben den Tag zu planen, üben die Aufgaben zu strukturieren, üben den Haushalt zu führen. Und das so lange, wie es dauert.
Denn darauf zu warten, bis mal ein Gericht entscheidet, dass das nette Amt die ganze Kohle endlich mal wieder zurückgibt, die wir für die Aufgaben des Landes als Anbieter von Schulbildung selbst aufbringen mussten - wenn wir so lange warten, ist der Zug abgefahren und die ganzen schweren Wege und die Jahre zu einem wiedergefundenen Selbstwertgefühl wären wieder dahin gewesen. Und das zurückgekommene Lachen und die Freude ebenfalls.
Doch zurück zu den Ängsten? Ja, wir haben eine Lösung, eine dubiose WG-Lösung. Doch sie kann ja nicht immer sein. Was ist, wenn der junge Mann plötzlich allein dasteht, ohne die ganzen Assistenzen? Vielleicht sogar ganz ohne Familie, denn mein Mann und ich sind nicht für immer für ihn da. Dann ist er ganz allein. Wirklich ganz allein. Das macht mir Angst, das macht meinem Mann Angst und das macht dem jungen Mann Angst.
Und was tun wir gegen die Ängste? Wir suchen uns Leute, die ihm vertraut sind, die bereit sind, im Notfall Ansprechpartner zu sein. Und es passiert das, was leider oft passiert: die verschwinden aus seinem Leben, ziehen weg, wenden sich ab, haben ihr eigenes Leben, in die so ein Anruf im Notfall nicht mehr passt. Das ist in den letzten zwanzig Jahren nun zum vierten Mal passiert. Also machen wir das weiter, was wir begonnen haben: wir üben selber - so gut wie möglich, so wenig ausreichend wie es halt ist. Und die Angst, die bleibt.