Bücherliste Autismus

  • Es gibt eine Unmenge Bücher zum Thema Autismus, grade für Neulinge ist es schwer, eine Auswahl zu treffen. Aber auch wer schon länger dieses Spezialinteresse pflegt, freut sich vielleicht über gute Tipps oder mag welche geben.


    Bitte hier Bücher benennen, und sie ein wenig (oder ein wenig mehr) beschreiben.


    Mein erstes Buch kurz nach Juniors Diagnose war eine Innensicht: Axel Brauns' preisgekröntes Buch "Buntschatten und Fledermäuse". Brauns beschreibt seine Kindheit in Hamburg, Familie, Schulzeit.
    Das ist jetzt bald zehn Jahre her, dass ich das Buch gelesen habe, und immer noch hab ich erhellende Passagen daraus parat. Weil sie so prägnant waren. Weil sie mir einen Aha-Effekt beschert haben. Zum Beispiel wie Brauns beschreibt, warum es so toll ist, auf einem Drehstuhl zu wirbeln, oder dass bestimmte stereotypische Beschäftigungen (zB "Lichteln") "Belohnung in sich selbst finden", eine wunderbare Formulierung. Oder wie er das Fussballtraining aufgesteckt hat, weil er ein Wort vom Trainer missverstanden hat und dachte, man würde ihn in den Kerker stecken. Oder wie er Flöte nur deshalb gelernt hat, weil er eine Hecke auf dem Weg zum Unterricht so gerne mochte. Oder was er sich gedacht hat, wie Freundschaft geht, oder Liebe.
    Ein tolles Buch.


    Bücher ausleihen kann man teilweise bei den Regionalverbänden Autismus.
    Oder über die Fernleihe von jeder kommunalen Bibliothek aus (kostenpflichtig, aber bezahlbar)


    hier gibt's übrigens im Netz eine Bücherliste: http://www.autismus-buecher.de

    Enscha - mit Hans im Glück (frühkindlicher Autismus, und Pubertät)
    "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative, und eine komische."

    7 Mal editiert, zuletzt von Enscha ()

  • Noch ein ziemlich bekanntes Buch:
    Nuala Gardner, Ein Freund namens Henry


    Die Autorin ist die Mutter des autistischen Dale. Sie beschreibt ziemlich eindrücklich die Kleinkindphase ihres Sohnes, geprägt von krassen Wutausbrüchen des Kindes, schmerzender Ausgrenzung und der Suche nach dem Warum. Peu a peu findet die Mutter heraus, wie man Dale richtig fördert, wie Dale tickt. Der Wendepunkt ist dann tatsächlich, wie die Familie sich einen Golden-Retriever-Welpen, Henry, zulegt. Über den Hund kann der Junge ganz viele Blockaden überwinden, wird zb die Windel los, lernt vieles.
    Das mutet ein bisschen wie eine Wunderheilung an, trifft aber für diesen Einzelfall sicherlich wohl zu - bloss dass man das eben nicht auf alle Kinder anwenden kann.


    Die langatmige Beschreibung der Schwierigkeiten mit dem zweiten Kind vom schwanger werden bis zur Förderung als Kleinkind kann man überlesen.
    Was mich auch gestört hat, ist die Sicht von Gardner auf Autismus als etwas, was ihr das Kind raubt, als etwas Externes. Tatsächlich aber hat Gardner ja dann einen guten Weg MIT dem Autismus, nicht GEGEN den Autismus gefunden. Sonst hätte es auch nicht funktioniert.


    Obwohl mir also einiges an dem Buch nicht gefallen hat, würde ich es dennoch empfehlen, weil die schwierigen Jahre mit dem kleinen Dale und die Wege, wie die Eltern ihm dann doch sehr gut vorwärts geholfen haben, sehr eindrücklich und detailliert beschrieben werden. Und auch die Besonderheiten Dales, zb wie er lernt, gut beobachtet sind. zb dachte seine Mutter lange, er könne nicht Radfahren, er hat auch nie geübt. er kann es dann aber "einfach so", schwingt sich aufs Rad und fährt los. Tatsächlich hat er lange genau zugeschaut, wie andere Radfahren, hat sich das durchdacht, und konnte es dann eben. Das beschreiben Autisten ja öfters so, dass sie auf diese Weise lernen.


    Aus diesem Buch habe ich zb auch meinen Grundsatz mitgenommen, Förderung in die Spezialinteressen von Junior einzubauen. Oder bestätigt gefunden, dass man eigene Ordnungs- und Sinnmuster neu überdenken muss. Dales Vater fährt mit ihm zum Beispiel zum weit entfernten Dino-Museum, obwohl er weiß, dass es geschlossen ist. Weil Dale das fürs erste Mal nur versteht, wenn er vor der Tür mit dem Schild "geschlossen" steht. Für solche Aktionen halten einen Eltern von NT-Kindern gerne mal für komplett bekloppt.


    Das Buch ist auch verfilmt worden, den Film habe ich allerdings nicht gesehen.

    Enscha - mit Hans im Glück (frühkindlicher Autismus, und Pubertät)
    "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative, und eine komische."

    Einmal editiert, zuletzt von Enscha ()

  • Buntschatten und Fledermäuse find ich sehr gut. Habe ich auch schon gelesen und es hat mir gut gefallen.
    Ansonsten find ich noch das Buch "Daniel - Ein Junge ohne Worte" von Marti Leimbach ganz nett. Allerdings ist es eher ein autobiografischer Roman und enthält nicht super viele Informationen. Eher geeignet um sich grob zum Thema Autismus zu informieren und für Menschen die damit bisher keine einzige Berühung hatten.

  • Claudio Castaneda und Angela Hallbauer: Einander verstehen lernen. Ein Praxisbuch für Menschen mit und ohne Autismus. 1. Auflage 2013
    Eines meiner Lieblingsbücher, keine Prosa, sondern ein Sachbuch. Meiner Meinung nach ein unschätzbar wertvoller Ratgeber für Profis, aber auch Eltern autistischer Kinder.
    bede Autoren kommen aus der Praxis, haben sehr viel Erfahrung mit autistischen Kindern und mit anderen UK-Nutzern.
    der Titel sagt eigentlich alles, es geht darum EINANDER besser VERSTEHEN zu LERNEN.


    das ganze ist also keine Einbahnstraße: Schwierigkeiten im Umgang und bei der Entwicklung autistischer Kinder haben ja BEIDE Seiten, Eltern wie Kinder. Und auch die Kommunikation läuft öfter in BEIDEN Richtungen in die Irre. Das merke ich Tag für Tag: Ich verstehe Hans nicht, oder falsch (oft merke ich das erst viel später, oder gar nicht, und so geht es es ihm wohl auch). Und Hans versteht mich falsch und den Rest der Welt (auch da gilt: Missverständnisse werden nicht bemerkt und also nicht aufgeklärt. Und so folgen weitere, und weitere ...).


    das Buch gibt viele praktische Beispiele für solche alltäglichen und oft grundsätzlichen Missverständnisse.


    es erklärt leicht verständlich die Grundlagen (Neurodiversität und dadurch bedingte kommunikative Unterschiede, spezieller zB Stereotypien und Echolalien, Joint Attention, Theory of Mind, ...


    und vor allem: es gibt zahlreiche Tipps und Methoden, die Kommunikation klarer und besser zu machen. Es wird alles knapp und verständlich erklärt:
    Visualisierung allgemein, Alternativenpläne, Social Stories, Comic Strip Conversations, visuelle Hilfen auf Talker oder iPad, Smalltalk-Bücher, Rollenspiele, und und und


    was mir mir ein bisschen fehlt, ist eine vernünftige Gliederung. Es kommt einfach ein Kapitelchen aufs nächste...

    Enscha - mit Hans im Glück (frühkindlicher Autismus, und Pubertät)
    "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative, und eine komische."

    13 Mal editiert, zuletzt von Enscha ()

  • Daniela Schreiter – Schattenspringer. Wie es ist anders zu sein. Panini Verlag, 2014
    Daniela Schreiter – Schattenspringer². Per Anhalter durch die Pubertät. Panini Verlag, 2015


    Beide in Cartoon-Form, darum für Kinder besonders zugänglich, aber auch für Spätdiagnostizierte bringt es gewisse Aha-Erlebnisse für die eigene Kindheit.


    Gabrijela Mecky Zaragoza – Meine andere Welt. Mit Autismus leben. Vandenhoeck & Ruprecht, 2012


    Das war mein erstes Buch, von einer Literaturwissenschaftlerin, die heute in Mexiko lebt. Autobiographisch geschrieben, schildert ihr Studium, ihren Beruf, und wie sie über ein Autistenforum sich wiedererkannte und dann diagnostizieren ließ. Ich finde es sehr positiv geschrieben und habe mich in vielem wiedererkannt.


    Daniel Tammet – Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Heyne-Verlag, 2007


    Der Autist, der die Zahl Pi mit zigtausend verschiedenen Nachkommastellen aufsagen kann und eine ausgeprägte Synästhesie aufweist. Ich denke, besonders für Autisten mit Synästhesie lesenswert, selbst wenn sie keine "Savant"-Fähigkeiten wie Tammet aufweisen, der innerhalb einer Woche isländisch so fließend gelernt hat, dass er danach ein Interview auf isländisch führen konnte. Seine synästhetischen Wahrnehmungen helfen ihm beim raschen Erlernen einer Sprache und bei seinem enormen Langzeitgedächtnis.

    Birger Sellin – ich will kein inmich mehr sein. botschaften aus einem autistischen kerker. KiWi, 1993


    Auch wenn bis heute umstritten ist, ob er das Buch durch gestützte Kommunikation selbst verfasst hat oder durch seine Mutter geschrieben wurde, ist es definitiv lesenswert.


    Denise Linke – Nicht normal, aber das richtig gut. Mein wunderbares Leben mit Autismus und ADHS., Berlin-Verlag, 2015


    Denise schildert beide Diagnosen in einem, wie Autismus ADHS manchmal ausbremst, manchmal verstärkt. Mir hat es gefallen, besonders ihre Schilderungen einer inklusiven Schule, und wie sie einmal blinde Menschen durch die Stadt geführt hat und dank ihrer Detailwahrnehmung sehr genau beschreiben konnte, was sie sah und dafür Komplimente bekam.

    Gee Vero – Autismus – (m)eine andere Wahrnehmung. FeedARead.com Publishing, 2014


    Im Gegensatz zu vielen Autismus-Biographien schlüsselt Gee Vero das
    Buch in die verschiedenen Aspekte von Autismus auf, beginnt mit
    Wahrnehmung und Reizen, erläutert die Schlüsselrolle der Amygdala, die
    bei vielen Autisten schon dann Gefahr meldet, wenn Nichtautisten keine
    Gefahr erkennen, und beschreibt Kompensationsstrategien wie inneres und
    äußeres Stimming (selbststimulierendes Verhalten).


    Ein wichtiges Kapitel stellt die Kommunikation dar, die sie bei sich
    und bei ihrem Sohn erläutert. 70 % läuft nonverbal ab, 23 % wird über
    den Tonfall transportiert, nur 7 % über das Gesprochene. Autisten haben
    besondere Schwierigkeiten mit der Interpretation von Tonfall und
    nonverbalen Signale, so entgehen wichtige Anhaltspunkte, um Ironie oder
    Sarkasmus zu verstehen, oder auch zwischen den Zeilen zu lesen. Ihr Sohn
    kommuniziert durch Mimik und Gestik. Nicht sprechen zu können, bedeutet
    nicht, Gesprochenes nicht zu verstehen.


    Das zentrale Kriterium für Autismus ist die veränderte
    Sinneswahrnehmung, so geht sie ausführlich auf die fünf Sinne, auf
    Körperwahrnehmung und Zeitwahrnehmung ein, Theorie of Mind und
    Selbst/Fremdwahrnehmung werden ebenfalls erklärt.


    Gee Vero besitzt eine äußerst bildhafte Sprache, spricht von
    „Erfahrungs- und Erwartungszahnrädern“, sie vergleicht das autistische
    Gehirn mit einer Firma und welche Vorgänge ablaufen, wenn Signale
    empfangen und verarbeitet werden müssen. Sie sagt, dass Autisten nicht
    falsch reagieren, sondern auf die Warnsignale ihrer übersteuerten
    Amygdala, die selbst dort Gefahren sieht, wo keine real vorhanden sind,
    etwa sich in Menschenmengen bewegen, was bereits hohen Stress
    verursachen kann. Diese Amygdala ist aber nicht unveränderlich, man kann
    sehr wohl trainieren und lernen, dass nichts passiert und die Angst
    verringern.


    Sehr wichtig ist auch die Betonung der Stimmingwerkzeuge, als
    Selbstregulierung von zu viel Stress, um etwa Vorträge und längeren
    Aufenthalt unter Menschen ertragen zu können.


    Außerdem finde ich es gut, wie sie den frühkindlichen Autismus ihres
    Sohnes erläutert. Als Autistin kann sie das in meinen Augen besser
    erklären als nichtautistische Eltern. Ich denke, dass man die
    Unterschiede zu Asperger erkennt, aber auch, dass man Kanner- und
    Asperger-Autismus nicht als zwei völlig getrennte Autismusformen
    betrachten darf.


    Gee Veros Buch schafft den Brückenschlag zwischen wissenschaftlichem
    Buch und Autobiographie, und gibt vor allem eine Reihe von
    Bewältigungsstrategien für den Alltag in die Hand, mitsamt Erklärungen,
    die auch Nichtautisten das Wesen des Autismus verständlich näher bringen können.

    Englischsprachige Bücher (teilweise auch auf Deutsch erschienen):

    Temple Grandin and Catherine Johnson – Animals in Translation. The woman who thinks like a cow, 2005


    Wen interessiert, warum sich Nutztiere wie Rinder und Haustiere wie Hunde so verhalten wie sie es tun, und warum Tiere so sensibel auf sensorische Reize reagieren und damit Ähnlichkeiten zu Autisten bestehen (und vielleicht darum Autisten so gut mit Tieren umgehen können). Zudem liefert sie eine interessante Theorie über die Fortentwicklung des Gehirns bei Mensch und Tier, und was bei Autisten anders ist.


    Temple Grandin and Richard Panek – The Autistic Brain. Exploring the strength of a different kind of mind, 2013


    Für mich ein Standardwerk zu den wissenschaftlichen Grundlagen (Genetik, Gehirnforschung) von Autismus. Wissenschaftlich, aber leicht verständliches Englisch.


    Ian Ford – A Field Guide to Earthlings. An Autistic/Asperger View of Neurotypical Behavior, 2010


    Ian Ford hat einen Leitfaden für „Erdlinge“ geschrieben – aus Sicht eines Asperger-Autisten auf neurotypische (NT) Verhaltensweisen. Er beschreibt 62 verschiedene neurotypische Verhaltensmuster und ihre Ursachen, gibt aber in seinem Buch nur wenige Ratschläge, seine wichtigste Empfehlung: Bleib authentisch und bewahre Deinen natürlichen Vorteil!


    Im Buch werden etwa soziale Gepflogenheiten erläutert, warum Nichtautisten Smalltalk führen, warum die Sprache so bedeutend ist, und warum Autisten weniger dem Herdentrieb folgen.


    Hab noch viel mehr gelesen, aber nicht mehr genug im Kopf, um es ausführlicher zu beschreiben.


    Die vollständige Liste findet ihr hier: https://autistenbloggen.wordpress.com/literatur/


  • Das neu erschienene Buch ist grade spannender Gesprächsstoff, und muss unbedingt in die Liste. Danke, Dario für den Link zur Zeit-Rezension:


    Steve Silberman: Geniale Störung. Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken.


    englischer Originaltitel: Neuro Tribes. Wenn ich so gut Englisch könnte, würde ich es im Original lesen.


    http://www.zeit.de/2016/43/gen…-steve-silberman-autismus

    Enscha - mit Hans im Glück (frühkindlicher Autismus, und Pubertät)
    "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative, und eine komische."

    4 Mal editiert, zuletzt von Enscha ()

  • Guten Morgen, Anni! Mach ruhig weiter hier. Ich persönlich finde es gut, wenn es einen fortgeführten Thread gibt. Wenn es ein Buch ist, wo sich eine Diskussion entwickelt, macht sich ein eigener Thread natürlich auch gut.

    Enscha - mit Hans im Glück (frühkindlicher Autismus, und Pubertät)
    "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative, und eine komische."

  • Why Johnny Doesn't Flap von Clay Morton & Gail Morton
    Illustrationen von Alex Merry
    NT is OK! 2016; Jessica Kingsley Publishers


    Mein Lieblingsbuch! <3

    Ist auf Englisch, aber ein kurzes, illustriertes Kinderbuch -

    das sollte sprachlich also gehen.


    Mal anders herum: Ein autistischer Junge beschreibt die Besonderheiten seines neurotypischen Freundes. Warum der beispielsweise eben nicht mit den Armen wedelt.

    Herrlich!

  • Hallo Anni, was genau interessiert Dich? Habe grade in‘s Inhaltsverzeichnis geguckt, mir scheint, das weißt Du schon alles, was da drin steht? Ist wohl so ein einführender Überblick. Oder täusche ich mich?

    Enscha - mit Hans im Glück (frühkindlicher Autismus, und Pubertät)
    "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative, und eine komische."

  • Trixi

    Hat das Label Autismus hinzugefügt.