Selbstbestimmung u. individuelle Freizeitgestaltung in WG

  • Leute, ich bin mal wieder mal auf den Boden der Tatsachen gelandet. Bin völlig demotiviert.
    Ich brauche eure Aufmunterung und eure Meinung.


    Auf der Suche nach einer WG und Informationen, habe ich einen Träger angerufen und dem Mensch am anderen Ende der Leitung unsere Vorstellungen und Wünsche geschildert. Meinem Sohn ist Selbstbestimmung und eine individuelle FReizeitgestaltung sehr wichtig und als ich unsere Vorstellungen von einer WG schilderte, wurde mir klargemacht, dass eine individuelle Freizeitgestaltung nicht in dem Umfang möglich sei, wie wir bzw. unser Sohn das wünschen. In dem Teil des Gespräches kam ich mir dann schon so vor, als wären unsere Forderungen ausverschämt. Es ging unter anderem um abendliche Discobesuche und abendliche Unternehmungen mit Abholung.


    Als ich meinen Sohn dann beschrieb, schlug man mir eine ambulant betreute WG vor, die nur ab Nachmittags bis zu den frühen Abendstunden betreut wird. Die Bewohner gehen also selbständig ins Bett und stehen morgens selbstständig ohne Hilfen auf. In der Nacht gibt es keinen anwesenden Betreuer.


    Als ich sagte, dass dies nichts für meinen Sohn wäre, da er eine Abend- und Morgenstruktur mit Hilfe benötigt, damit er abends ins Bett geht und morgens pünktlich aufsteht, Körperpflege betreibt und nicht mitten in der Nacht den Fernseher anschaltet, entgegegnete man mir, dass dies zur Selbstbestimmung dazugehören würde, dass die Leute ins Bett gehen, wann sie wollen und auch mitten in der Nacht den Fernseher anschalten können. Die WG-Bewohner müssten dann eben auch erfahren, dass ihnen, wenn sie nicht pünktlich in der Werkstatt erscheinen, halt der Werkstattplatz gekündigt wird. :eek
    Das gehöre zum normalen Leben dazu und das müssten auch die Menschen mit Behinderung lernen. :eek
    Außerdem sagte man mir, Eltern hätten damit ja oft Probleme, ihren Kindern auch solche Erfahrungen zuzugestehen.
    Ja,ja.....immer die bösen und unfähigen Eltern, die nicht loslassen können. :evil: Andere Leute wissen ja immer besser, wie es geht. :evil:


    Also, ein abendlicher Discobesuch oder eine abendliche Unternehmung mit Abhohlung durch einen Betreuer wird im Rahmen der Selbstbestimmung nicht gewährt, aber ein selbstbestimmter Ruin mit Verlust des Werkstattplatzes ist durchaus im WG-Leben inbegriffen. :eek


    Ich sitze hier nun und weiß nicht, was ich davon halten soll. Soll ich lachen, soll ich weinen?
    Am liebsten würde ich heulen. :( Ich fühle mich nach diesem Telefonat ganz schlecht und ausverschämt.
    Habe ich ein anderes (falsches) Bild von Selbstbestimmung und kann nur nicht loslassen, wenn ich für meinen Sohn eine Morgen- und Abendstruktur einfordere? Ist es ausverschämt, sich eine individuelle Freizeitgestaltung zu wünschen? Es ist ja nicht so, dass wir einen Luxusurlaub auf den Malediven mit Einzelbetreuung einfordern.
    Meine Welt steht gerade Kopf.


    Wie ist eure Meinung?


    Ach.....und als I-Tüpfelchen nahm man mir auch gleich noch die Motivation selbst eine WG zu gründen.
    Zu schwierig, zu kompliziert, zu aufwändig.....oh man. :(


    Bin mal wieder gaaaaanz tief gefallen und habe wie so oft die Erfahrung gemacht, dass der Wahnsinn wohl niemals enden wird. :(

  • Au wei... die morgendliche Struktur ist doch eigentlich das wichtigste ?( ... ich mein, selbst im Jugendalter würd so manches normalo Kind, wenn man es ließe, doch eher nochmal die Decke über den Kopf ziehen statt zur Schule zu gehen, wenn es dies scheinbar frei entscheiden könnte! Sollten wir Eltern ihnen dann auch "gönnen" die Erfahrung zu machen, dann eben keinen Schulabschluss zu machen und keinen Beruf zu erlernen??? 8|


    So, wie du es beschreibst ist dann ja lediglich zur UNWICHTIGSTEN Zeit jemand da... am Nachmittag...nach der Arbeit...wo man gern wirklich seine Ruhe hat und eigentlich machen kann, was man mag...


    Hat man dir diese Zeitspanne für die Unterstützung irgendwie erklären können?


    J
    onna
    ~~~~~~~~~~
    mit Jesper und Felix *2006 (Down Syndrom PLUS, gehörlos und weitere Baustellchen...)




    Einmal editiert, zuletzt von Jonna ()

  • So, wie du es beschreibst ist dann ja lediglich zur UNWICHTIGSTEN Zeit jemand da... am Nachmittag...nach der Arbeit...wo man gern wirklich seine Ruhe hat und eigentlich machen kann, was man mag...


    Hat man dir diese Zeitspanne für die Unterstützung irgendwie erklären können?


    Jonna, diese WG-Form gibt es in ganz Deutschland. Sie ist geeignet für die ganz fitten Leute mit Behinderung.
    Oft ist es so, dass Leute, die mehr Hilfen benötigen in den Wohnheimen landen.
    Die Anwesenheit von Betreuern während- der Morgen,- Abend- und Nachtstunden wird man in WGs nicht so häufig finden, da die Finanzierung teurer ist.
    Wohnheime sind kostengünstiger. Da kann man mal eben z.B. die Nächte mit einem Betreuer auf 40 Bewohner abdecken.
    Ein Wohnheim kommt für uns NIEMALS infrage!

  • Sorry, aber diese Argumentation ist ja schon mehr als lächerlich. *kopfschüttel*
    Diese Form der Betreuung kenne ich aus der Jugendhilfe wenn es darum geht selbstständig zu werden. Aufnahme ab 16 Jahren und selbst da gibt es einen Bereitschaftdienst der im Notfall kommt... *kopfschüttel*


    Gibt es denn für Menschen mit Behinderung nicht auch so etwas wie eine ambulante Betreuung? Gibt es im psychischen Bereich in verschiedenen Formen. Einmal die Form wo man recht wenig Stunden pro Woche hat, aber auch mit mehr Stunden die Woche.
    Ich komme deswegen da drauf, weil man sich so vielleicht die Betreuung in die Stunden legen könnte, die eben wichtig sind. Abends und morgens.
    Wäre dafür nicht auch ein persönliches Budget einsetzbar?

  • Trixi, wir bräuchten eine WG mit Betreuung ab dem Nachmittag, am Morgen, am Abend und mit einem (schlafenden) Betreuer in der Nacht.
    Solche WGs gibt es, aber viel seltener als die WGs in der ambulanten Betreuung, die nur ein paar Stunden am Tag betreut werden.


    Sicher kann man auch das Persönliche Budget beantragen, aber das muss man ja erst einmal genehmigt bekommen und mit dem PB kenne ich mich noch überhaupt nicht aus.
    Ich stelle mir das ziemlich kompliziert, bürokratisch und arbeitsaufwändig vor.

  • Ach und noch etwas: Mein Sohn hat ja Epilepsie und in einer WG würde wohl der Pflegedienst kommen und immer zur Gleichen Zeit die Medikamente geben.
    Mein Einwand, dass mein Sohn am Wochenende auch mal ausschlafen oder am Abend auch mal weggehen möchte und somit die Medikamente mit ärztlichem Einverständnis dann in diesen Situationen bis zu zwei Stunden später einnehmen darf, wurde abgeschmettert, das dies so nicht möglich sei, da der Pflegedienst die Zeiten nicht verschieben könne.
    Mein Sohn wäre somit in seiner Zeitplanung zusätzlich eingeschränkt und an die WG gebunden.


    Selbstbestimmung? Wo? Nicht im Behindertenbereich! Warum auch?
    Da wird alles durchgetacktet. Hauptsache die Pläne stimmen.

  • Hallo Ella,


    alles in allem würde ich sagen, die Einrichtung scheint nicht zu deinem Sohn und seinen Bedürfnissen zu passen. Es dürfte auch wenig Sinn machen, mit den Verantwortlichen der Wohngruppe über deren Konzet zu diskutieren, denn kaum eine Einrichtung wird für eine einzigen Interessenten ihr ganzes Konzept in Frage stellen oder so anpassen, dass es maßgeschneidert auf deinen Sohn passt. Ich weiß, dass das hart klingt, aber pragmatisch betrachtet ist es einfach so.


    Ich kann dir nichts anderes raten als weiter zu suchen, bis ihr eine Einrichtungn findet, bei der du das Gefühl hast, dass du ihn dort wirklich guten Gewissens abgeben kannst, auch wenn ich natürlich weiß, dass das leichter gesagt ist als getan. Vielleicht werde ich hier Forum mal von meinen eigenen Erfahrungen mit WG`s und therapeutischen Wohnheimen schreiben, denn ich habe da so einiges erlebt, worüber ich mich öffentlich noch nie geäußert habe.


    Als ich sagte, dass dies nichts für meinen Sohn wäre, da er eine Abend- und Morgenstruktur mit Hilfe benötigt, damit er abends ins Bett geht und morgens pünktlich aufsteht, Körperpflege betreibt und nicht mitten in der Nacht den Fernseher anschaltet, entgegegnete man mir, dass dies zur Selbstbestimmung dazugehören würde, dass die Leute ins Bett gehen, wann sie wollen und auch mitten in der Nacht den Fernseher anschalten können. Die WG-Bewohner müssten dann eben auch erfahren, dass ihnen, wenn sie nicht pünktlich in der Werkstatt erscheinen, halt der Werkstattplatz gekündigt wird. :eek
    Das gehöre zum normalen Leben dazu und das müssten auch die Menschen mit Behinderung lernen. :eek


    Ich weiß, dass viele Einrichtungen solche Konzepte haben und für manche Menschen ist das ja auch richtig. Mir selbst hat es auch gut getan, wenn man mir möglicht viel Eigenverantwortung zugestanden hat, auch wenn das damit verbunden war, dass man auf der anderen Seite für die unangehmen Folgen des eigenen Verhalten gerade stehen musste.


    Bei deinem Sohn ist das aber etwas anderes und er braucht auch eine andere Art von Betreueung, das ist mir bewusst. Ich vermute nur, die Art von Betreuung, die du dir für deinen Sohn vorstellst und die er sicher auch braucht, wird eine WG (die meist nur locker und niedrigschwellig betreut sind) wahrscheinlich nicht bieten können, die werdet ihr eher in einer Einrichtung mit stationärer Rundumbetreuuung finden. Und selbst in staionären Wohnheimen liegt oft sehr, sehr viel im Argen. Das weiß ich aus eigener bitterer Erfahrung, aber dazu, wie gesagt, vielleich später mal mehr.

  • alles in allem würde ich sagen, die Einrichtung scheint nicht zu deinem Sohn und seinen Bedürfnissen zu passen.


    Dario, es handelt sich leider nicht nur um eine WG.
    Ich hatte Kontakt zu einem größeren Träger, der viele WGs betreibt und es war nur ein Informationsgespräch. Es ist noch keine WG in der engeren Auswahl.


    die werdet ihr eher in einer Einrichtung mit stationärer Rundumbetreuuung finden. Und selbst in staionären Wohnheimen liegt oft sehr, sehr viel im Argen.


    Ein Wohnheim....NIEMALS!


    Vielleicht werde ich hier Forum mal von meinen eigenen Erfahrungen mit WG`s und therapeutischen Wohnheimen schreiben, denn ich habe da so einiges erlebt,


    Ich bin an deinen Erfahrungen sehr interessiert.


    Schönen Tag allen!

  • Hallo Ella,


    von Ende 1996 bis Januar 1999 habe ich in einem sozialtherapeutischen Wohnheim in Hamburg gelebt. Öffentlich hab ich das nie erwähnt, weil ich mit dieser Zeit inzwischen gut für mich abgeschlossen habe.


    Vor einigen Jahren habe ich an meiner Autobiographie geschrieben, die ich ebenfalls nie veröffentlicht habe. Das Manuskript enthält auch ein Kapitel über meine Zeit im Wohnheim, so dass jederzeit auf meine Erinnerungen zurückgreifen kann.


    Meine Erinnerungen beschrieben die Zeit ab etwa Mitte 1995, kurz nachdem ich meine Ausbildung zum Industriekaufmann nach nur drei Monaten wieder abbrechen musste und überhaupt keine Idee mehr hatte, wie es mit mir weitergehen konnte. Auch meine Therapeuten und Sozialarbeiter waren allesamt ratlos und so kam schließlich eine stationäre Wohnheimbetreuung ins Gespräch. Hier ist das Kapitel aus meiner Autobiographie, das vielleicht ein wenig Aufschluss gibt, wie so ein Heimalltag in der Realität aussehen kann:


    Aufgrund meiner andauernden Perspektivlosigkeit schlug der sozialpsychiatrische Dienst vor, mich dauerhaft in eine stationäre therapeutische Betreuung zu vermitteln.Dies sei aufgrund meiner „jahrelang chronifizierten“ Schwierigkeiten der einzige Weg, der noch Aussicht auf Erfolg versprechen würde. Als geeigneten Ort hatte man ein sozialtherapeutisches Wohnheim in Hamburg für mich ausgesucht. Mir war klar, was das bedeutet: Meine Heimkarriere, die mich von klein auf begleitete, sollte sich auch im Erwachsenenalter fortsetzen. Ich wehrte mich nicht gegen die Heimunterbringung, denn ich sah für mich selbst selbst keine Alternative mehr. Was hatte ich schon vorzuweisen außer einem total verpfuschten Lebenslauf? Zum anderen waren die ständigen Heim- und Klinikaufenthalte ohnehin das einzige, was ich von klein auf kannte. Im Herbst 1996 bekam ich ‒ nach abermals nach fast zwei Jahren Wartezeit ‒ den angekündigten Platz im Wohnheim. Dort lebten Frauen und Männer mit schweren psychiatrischen Erkrankungen. Sie hatten chronischen Psychosen, waren manisch-depressiv oder litten unter schweren Persönlichkeitsstörungen. Diese Krankheitsbilder waren mir aus meiner Zeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie geläufig, so dass ich wenig Berührungsängste mit diesen Menschen hatte.


    Im Wohnheim selbst hatte ich ein erstaunlich freies Leben. Die Vorgaben zum Tagesablauf waren gering und bestanden lediglich aus zwei Stunden Arbeitstherapie am Tag. Dort musste ich Luftballons verpacken. Das war keine anspruchsvolle Aufgabe, aber wenigstens hatte ich eine Beschäftigung und eine Tagesstruktur. Ansonsten konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Ich bekam ein eigenes Zimmer, das ich mir selbst einrichten durfte. Da ich als einer der wenigen Neuankömmlinge einigermaßen klar im Kopf war, wurde ich als „Selbstversorger“ eingestuft. Ich bekam jede Woche mein Verpflegungsgeld ausbezahlt und war selbst dafür verantwortlich, dass ich ausreichend zu Essen im Kühlschrank hatte. Mit diesem Geld kam ich gut aus. Da ich sparsam lebte und gut wirtschaften konnte, hatte ich am Ende der Woche oft noch einen Betrag übrig, den ich als zusätzliches Taschengeld aufbrauchen konnte. Dieses eigenverantwortliche Leben hat mir gut getan, denn von zu Hause kannte ich so etwas nicht. Ich gewöhnte mich an das Leben im Heim, denn es hatte seine unbestreitbaren Vorteile: Ich bewohnte mein eigenes Zimmer, bekam mein festes Taschengeld, ging jeden Tag zur Arbeitstherapie, hatte immer einen Ansprechpartner und musste mir keine existenziellen Sorgen machen. Ich führte ein sehr gleichförmiges und vorhersehbares Leben. In gewisser Weise fand ich im Heim genau die Sicherheit, die ich mir als autistischer Mensch so sehnlichst wünschte.


    Dennoch wurde ich in dieser Einrichtung nie wirklich glücklich, denn das Leben hatte auch seine Schattenseiten. In therapeutischer Hinsicht habe ich im Wohnheim gar nichts für mich erreichen können. Es gab zwar einen Psychologen, der regelmäßig Gespräche mit mir führte, aber dieser Mann wirkte selbst ein wenig labil. Ich fand nie eine gemeinsame Ebene mit ihm, auf der ich mich hätte öffnen können. Mit den Mitbewohnern konnte ich ebenfalls nicht viel anfangen. Die meisten waren schwer psychisch krank und von außen kaum zugänglich. Einige litten regelmäßig unter abstrusen Wahnvorstellungen, andere waren chronisch depressiv, saßen den ganzen Tag im Sessel und dämmerten ‒ vollgepumpt mit Medikamenten ‒ vor sich hin. Einerseits taten mir diese Menschen leid, andererseits konnte ich beim besten Willen keine gemeinsame Ebene mit ihnen finden, so dass ich meist für mich allein blieb. Es gab nur zwei Mitbewohner, mit denen ich näher in Kontakt kam. Der eine hieß Werner und war ein gutmütiger älterer Mann, der eine wohltuende Ruhe ausstrahlte. Dann war da noch Sabine, eine jugendliche wirkende Enddreißigerin, die wegen ihrer Depression nicht mehr als Lehrerin arbeiten konnte. Sie war mir immer ein gute Gesprächspartnerin, mit der ich bis spät in die Nacht philosophieren konnte.


    Als größtes Problem empfand ich die hygienischen Zuständen im Heim, die so schlimm waren, dass ich sie kaum ertragen konnte. Vor allem die Wohnbereiche waren extrem verdreckt. Reinigungskräfte gab nicht, denn die Bewohner sollten lernen, die notwendigen Haushaltstätigkeiten selbst zu verrichten ‒ aus „Gründen der Verselbstständigung“, wie es offiziell hieß. Der Gedanke mag pädagogisch richtig sein, in der Praxis hat er aber selten funktioniert, denn die meisten Bewohner waren zu krank, um ihren lebenspraktischen Verpflichtungen nachzukommen. Die Folgen sah man jeden Tag: Der Gestank der Toiletten reichte bis in den Flur, der Küchenfußboden war übersät mit verkrusteten Essensresten, die Wohnzimmermöbel voller Zigarttenkippen. Gestört hat das kaum einen, auch die Betreuer (alles studierte Sozialpädagogen) hatten sich längst damit abgefunden und meinten, es wäre doch Sache der Bewohner, wie sie ihren Lebensbereich gestalten.


    Irgendwann wurde es mir zu viel: Ich nervte den diensthabenden Mitarbeiter so lange, bis er mir Geld aus der Haushaltskasse gab. Damit ging ich zum nächsten Drogeriemarkt, kaufte Reinigungs- und Desinfektionsmittel und startete eine groß angelegte Reinigungsaktion, bei der ich das Stockwerk so gründlich reinigte, wie es wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr geschehen war. Bis in die Abendstunden war ich in Aktion und steigerte mich in einen regelrechten Putzwahn. Zwischenzeitlich fragte ich mich mehrmals: Wie blöd bin ich eigentlich, dass ich den Anderen hier ihren Dreck wegräume?, aber ich konnte nicht anders ‒ die Zustände waren unaushaltbar. Am nächsten Morgen war das Stockwerk kaum wiederzuerkennen. Die Gemeinschaftsräume waren aufgeräumt wie bei mir zu Hause, überall duftete es nach Chlorreiniger und Zitrusessenzen. Leider hielt meine Mühe nicht lange vor, denn es dauerte keine zwei Tage, da war die Wohngruppe wieder genauso vollgemüllt und verdreckt wie vorher. Darüber war ich so traurig und enttäuscht, dass ich mich niemals wieder so engagiert habe. Ich fand mich mit den Zuständen im Heim ab und kümmerte mich nur noch um mich selbst. Einige Male habe ich mit den Betreuern darüber gesprochen, wie sehr ich unter den hygienischen Bedingungen leide. Es gab welche, die hat das nicht interessiert, andere konnten mich verstehen, wussten aber selbst keine Lösung.


    Die meisten Betreuer waren derart mit sich selbst und ihren ständigen Dienstbesprechungen beschäftigt, dass sie kaum mitbekamen, was sich in den Wohngruppen abspielte. Dazu kam ein Problem, das man in vielen sozialen Einrichtungen findet; nämlich chronischer Personalmangel. Schon aus diesem Grund blieb den Mitarbeitern zu wenig Zeit, sich persönlich um die Bewohner zu kümmern. Wenn es jemandem ernsthaft schlecht ging, fühlte sich das Personal schnell überfordert. Dann hieß es nur: „Geh für einige Zeit ins Krankenhaus, bis es dir wieder besser geht!“ Mit „Krankenhaus“ war die pychiatrische Station des ortsansässigen Klinikums gemeint. Es gab viele Bewohner, die regelmäßig dorthin mussten ‒ manche nur für eine Woche, andere monatelang. Irgendwann kamen sie zurück und verhielten sich unauffällig, bevor sich ihr Zustand erneut verschlechterte und sie abermals ins Krankenhaus mussten. Es war auch für mich nicht einfach, das regelmäßig mitzuerleben. Die vierzehntägigen Wochenendheimfahrten zu meiner Familie waren meine einzige Möglichkeit, dieser bedrückenden Kulisse für kurze Zeit zu entfliehen. Ein junger Mitarbeiter, mir dem ich mich gut verstand, gab mir offen zu verstehen, dass ich „viel zu gesund“ sei für das Leben in einer solchen Einrichtung. „Ein halbwegs normaler Mensch, wenn der hier einzieht, der kann hier ja nur verrückt werden!“, so sein zynischer, aber erschreckend ehrlicher Kommentar.


    Nach zwei Jahren und drei Monaten wurde die Heimunterbringung wieder abgebrochen, weil inzwischen allen Seiten klar geworden war, dass mir diese Therapie mehr schadet als nützt. Zum Schluss gab es niemanden, der in diesem Heim noch eine Perspektive für mich sah, nicht einmal ich selbst. Trotzdem wurden meine Sorgen durch die bevorstehende Entlassung nicht geringer, denn so sehr ich unter den Zuständen im Heim gelitten hatte: Wo sollte denn bitteschön die Alternative sein? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich in der „Welt da draußen“ noch eine Chance hätte, nachdem ich einen Großteil meines Lebens in therapeutischen Einrichtungen verbracht hatte. Mein Selbstvertrauen war am Boden und ich wusste wieder einmal nicht, wie es weitergehen sollte.


    Das sind also meine Erinnerungen an die Zeit im sozialtherapeutischen Wohnheim. Mittlerweile ist das fast 20 Jahre her und inzwischen bin ich wirklich gut darüber hinweg. Wie es danach weiterging und wie ich es schlussendlich zur eigenen Wohnung geschafft habe, ist eine lange Geschichte, die ich nicht in wenigen Sätzen erklären kann. Wer weitere Details aus meiner Lebensgeschichte nachlesen möchte, kann das auf meiner Autorenseite bei Yumpu tun. Dort gibt es einen Aufsatz mit Namen „Der Strafbefehl, der mir meine Würde zurückgab“, wo ich meinen Geschichte von Kindheit an beschreibe.


    Über die zwei Jahre im Wohnheim muss ich leider sagen, dass mir diese Zeit nicht wirklich weitergeholfen, sondern mich in meiner Entwicklung eher zurückgeworfen hat. Das lag wohl hauptsächlich daran, dass ich dort noch nicht mit Asperger diagnostiziert war - und zweitens, dass man in diesem Heim nicht auf autistische Menschen eingestellt war, sondern eher auf Menschen mit Psychosen, Schizophrenie oder schweren Depressionen. Klar ist auch, dass ich aus solche Heime aus meiner eigenen Erfahrung nicht weiterempfehlen kann.Gerade Autisten werden in solchen Heimen kaum die Bedingungen und Strukturen finden, die sich brauchen.


    Ella, ich wünsche auch deinem Sohn nicht, dass er jemals in so eine Einrichtungen muss. Trotzdem glaube ich, dass es schwer wird, eine gute Einrichtung für ihn zu finden, wo man angemessen auf ihn und seine Bedürfnisse eingehen kann. In stationären Heimen herrscht nur wenig Raum und Flexibilität, auf auf die speziellen Bedürfnisse einzelner Bewohner einzugehen.


    Mit Wohngemeinschaften habe ich persönlich keine Erfahrung, aber nach allem was ich weiß, sind WG`s auf Menschen zugeschnitten, die ein vergleichsweise hohes Maß an Selbstständigkeit mitbringen. Dort wirst du wahrscheinlich ähnliche Einstellungen und Konzepte hören wie das, was man dir neulich schon im Gespräch erklärt hat. Ich will nicht pessimistisch sein oder sagen, dass es chancenlos ist, jemals ein liebevolles zu Hause für deinen Sohn zu finden, aber gute Betreuungseinrichtungen sind selten.


    Am ehesten würde ich nach einer Einrichtung speziell für Autisten suchen. Für erwachsene Autisten gibt es zwar nicht viel spezialisierte Einrichtungen, aber dort könnte ich mir noch am ehesten vorstellen, dass man sich dort bereit und in der Lage ist, sich einigermaßen auf deinen Sohn einzustellen. In anderen WG´und Wohnheimen (die sich einfach nur unspezifisch an „Menschen mit psychischen Behinderungen“ wenden) bin ich da aus meiner eigenen Erfahrung heraus skeptisch.

  • Dario, vielen Dank für die Schilderung deiner Erfahrungen!
    Puh, da hast du ja was mitgemacht. Da entsteht bei mir ein düsteres Bild im Kopf. Genau aus diesen Gründen lehne ich Wohnheime ab. Sie haben einen stationären, klinischen Charakter.
    Ich möchte ein behagliches Zuhause für meinen Sohn, mit dem er sich identifizieren kann.


    Trotzdem glaube ich, dass es schwer wird, eine gute Einrichtung für ihn zu finden, wo man angemessen auf ihn und seine Bedürfnisse eingehen kann.


    Ja, die Suche gestaltet sich schwierig. Wir suchen ja seit ein paar Jahren immer wieder mal und das ist ganz schön frustrierend. In den Jahren gab es kaum Veränderungen. Ich fühle mich mittlerweile als ausverschämt fordernde Mutter, weil ich für meinen Sohn Dinge einfordere, die für sein Leben wichtig wären. Die Selbstbestimmung behinderter Menschen scheitert an den Kosten.


    Das Problem ist, dass mein Sohn in einigen Bereichen sehr fit ist und in anderen Bereichen wiederum sehr viel Unterstützung benötigt. Die Entwicklungsschere klafft total auseinander.
    Solche Menschen wie mein Sohn sind in der Wohnlandschaft nicht vorgesehen.
    Da gibt es nur zwei Kategorien: Fit oder schwer beeinträchtigt. Dazwischen gibt es kaum Angebote.


    Ich habe mir mal ein Wohnheim für Autisten angesehen. Das kam auch nicht infrage. Dort gab es nur recht schwer betroffene Autisten. Ich würde mir eine gute Durchmischung oder eine inklusive Einrichtung wünschen.


    Ich bin selbst mittlerweile recht hoffnungs- und orientierungslos.

  • Meine Erfahrung ist: Die meisten psychozialen Einrichtungen (auch WG´s und Wohnheime) sind eher für Menschen mit "klassischen" psychischen Erkrankungen geeignet, also für Menschen mit Psychosen, Schizophrenie oder schweren Depressionen. Mit solchen Erkranungen kennt sich heute jeder Psychiater (und auch viele Hausärzte) gut aus, da gibt es in jeder größeren Stadt ein vergleichsweise gutes Versorgungsnetz.


    Autisten sind dagegen einen Gruppe, die immer noch durch alle Maschen fällt, für die es kaum Angebote gibt. Da muss sich noch sehr vieles verbessern!

  • Ach Ella, das ist doch wieder zum aus der Haut fahren, was Du schilderst! (Das hilft Dir jetzt auch nicht, tut mir leid)
    Dario, was kann ich da schreiben. Ich bin richtig fertig, nach dem ich Deinen Beitrag gelesen habe. Aber danke, es ist sehr wichtig.
    Es macht mir auch Angst. Ich persönlich will NIEMALS (wieder) in eine WG oder ein Wohnheim ziehen. Aber ich erfahre überhaupt kein Verständnis dafür, dass Behinderte "auch" allein leben können. Ich gucke in erstaunte Augen bei Sozialpädagoginnen, Ärzten, Familienangehörigen.
    Informiert sind diese Menschen nicht. Sie „haben nur mal gehört“ oder „dachten“ oder „meinten“. Besonders gern denken oder meinen sie, was ich zu wollen oder zu fühlen habe.
    Oft regiert auch einfach das Sankt Florian Prinzip.
    Selbstbestimmt leben wird NICHT durch den oder die Behinderte/n definiert, sondern durch die Helferlobby. Es gilt das Motto: Entweder, Sie gehen den Weg, den wir als Selbstbestimmt definiert haben, oder Sie gehen ohne uns.


    Lynkas grüßt.

  • Das Problem betrifft übrigens auch psychisch Kranke, die keinen Behindertenstatus haben.


    Es ist wirklich schrecklich, dass jegliche Selbstbestimmung da aufhört, wo man Hilfe braucht. Teilweise hat man ja nicht mal die Möglichkeit darüber zu bestimmen welche Hilfe in welcher Form man benötigt.
    Das System dieser Hilfen ist einfach schon so bekloppt....


    Dario, was du da über diese WG schreibst. Ich kann mir vorstellen, dass das echt der pure Horror für dich war. Ich frage mich nur, warum es so lange gedauert hat, bis auch die Pädagogen etc. eingesehen haben, dass diese Form der Hilfe komplett falsch für dich ist.
    Ich glaube aber auch, dass es dennoch gute WGs, Wohnheime etc. gibt. Und ich denke gänzlich ohne Kompromisse wird es nicht funktionieren. Liegt ja schon alleine daran, dass verschiedene Menschen aufeinander treffen und es für alle halbwegs Bedürfnisgerecht sein muss.


    Ehrlich gesagt hätte man mich damals mit 18 am liebsten auch in eine therapeutische Einrichtung gesteckt. Mein Glück, dass ich eben schon 18 und dadurch mehr Mitsprache recht hatte. Eine therapeutische Einrichtung wäre für mich völlig falsch gewesen.
    Auf der anderen Seite wäre es von Anfang an sinnvoller gewesen, mich in eine Pflegefamilie zu lassen, was aber wiederum nicht mal als Idee zugelassen wurde, da ich mit fast 16 zu alt dafür war.



    Ich glaube, wenn gewisse Menschen bereit wären auch mal andere Wege zu gehen, dann wäre es garantiert möglich für jeden die am besten passende Wohnmöglichkeit zu finden. Man darf nur eben nicht in Schablonen denken und muss anfangen individuell auf jede einzelne Person zu schauen.



    Ella, wenn es dich beruhigt... Meine Behinderung ist zwar gänzlich anders als die deines Sohnes... Aber auch bei mir klafft eine enorme Schere die niemand nachvollziehen kann. Dein Sohn ist da also definitiv nicht der einzige!

  • Hallo, ihr Lieben,


    als ich vorhin das mit dem "Recht auf Selbstbestimmung" oder eher "Recht auf Verwahrlosung" gelesen habe, da musste ich auch schlucken. Denn unsere Familie treiben diese Ängste auch gerade um. Immerhin verlangte das Jugendamt ja schon bei dem damals 16jährigen, er möge doch mal langsam selbstständig werden. Häh? Selbstständig? Ein hochfunktionaler Autist mit extrem traumatischen Erfahrungen, kurz vor einer schweren Depression? Darf der nicht erst mal wieder gesund werden, um erneut ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können - in vertrauter Umgebung -, bevor man an das Thema Selbstständigkeit geht?


    Doch diese Überlegungen waren vom JA nicht gewünscht, denn Eltern die so denken, sind wohl kindeswohlgefährdend und denen gehört das Kind weggenommen und in eine Einrichtung gesteckt, damit es dort endlich mal selbstständig wird. Dass aber ein Autist kein üblicher Jugendlicher ist, sondern bei hochfunktionierenden Autisten es eh bis etwa zum 30. Geburtstag dauert, bis sie all das gelernt haben können, was für Selbstständigkeit und Selbstbestimmung notwendig ist, an so was denkt ein Amt nicht.


    Die bieten sogar für einen Studenten, der ähnlich gestrickt ist wie Ellas Sohn - in Bezug auf die Planung des Tagesablaufes - nur lächerliche 7 Stunden Eingliederungshilfe, um einen Studienassistenten zu finanzieren. 7 Stunden? Die Arbeitszeit eines Erstsemesters, um einigermaßen das Studium absolvieren zu können, beträgt bei Informatikern 44 Stunden. Da kann man als behinderter Mensch gleich zu Hause bleiben. Was heißt, dass man auch gleich das Studium in die Tonne kloppen kann, denn leider bietet von vier Professoren in unserem Fall nur einer die Möglichkeit, ordentliche Vorlesungsfolien zu bekommen und sogar die Vorlesungen per mp-4 nachträglich bearbeiten zu können. Der bietet sogar Lösungen für die Hausaufgaben und Lösungen für die Übungsaufgaben. Als einziger. Müsste also heißen: Ade Informatikstudium, ade erster Arbeitsmarkt als Top-Programmierer mit Studienabschluss.


    Wenn, ja wenn wir uns nicht eine andere Lösung überlegt hätten - hoffentlich nicht bis zum 30. Lebensjahr ;)


    Wir bilden eine WG am Studienort, ich bin als Pflegeperson dort und erfülle damit meine gesetzlichen Pflichten. Zudem bin ich Studienassistenz und versuche, irgendwie alles zu managen, dass ein Studium irgendwie möglich ist: und letztendlich trainieren wir Selbstständigkeit: üben rauszugehen, üben einzukaufen, üben den Tag zu planen, üben die Aufgaben zu strukturieren, üben den Haushalt zu führen. Und das so lange, wie es dauert.


    Denn darauf zu warten, bis mal ein Gericht entscheidet, dass das nette Amt die ganze Kohle endlich mal wieder zurückgibt, die wir für die Aufgaben des Landes als Anbieter von Schulbildung selbst aufbringen mussten - wenn wir so lange warten, ist der Zug abgefahren und die ganzen schweren Wege und die Jahre zu einem wiedergefundenen Selbstwertgefühl wären wieder dahin gewesen. Und das zurückgekommene Lachen und die Freude ebenfalls.


    Doch zurück zu den Ängsten? Ja, wir haben eine Lösung, eine dubiose WG-Lösung. Doch sie kann ja nicht immer sein. Was ist, wenn der junge Mann plötzlich allein dasteht, ohne die ganzen Assistenzen? Vielleicht sogar ganz ohne Familie, denn mein Mann und ich sind nicht für immer für ihn da. Dann ist er ganz allein. Wirklich ganz allein. Das macht mir Angst, das macht meinem Mann Angst und das macht dem jungen Mann Angst.


    Und was tun wir gegen die Ängste? Wir suchen uns Leute, die ihm vertraut sind, die bereit sind, im Notfall Ansprechpartner zu sein. Und es passiert das, was leider oft passiert: die verschwinden aus seinem Leben, ziehen weg, wenden sich ab, haben ihr eigenes Leben, in die so ein Anruf im Notfall nicht mehr passt. Das ist in den letzten zwanzig Jahren nun zum vierten Mal passiert. Also machen wir das weiter, was wir begonnen haben: wir üben selber - so gut wie möglich, so wenig ausreichend wie es halt ist. Und die Angst, die bleibt.

    ........................................
    Liebe Grüße von Klara


    "Das, was mich behindert,
    damit lerne ich zu leben.
    Der, der mich behindert,
    der lässt mich im Leben leiden."


    © Klara Westhoff

  • Wir bilden eine WG am Studienort, ich bin als Pflegeperson dort und erfülle damit meine gesetzlichen Pflichten. Zudem bin ich Studienassistenz und versuche, irgendwie alles zu managen, dass ein Studium irgendwie möglich ist: und letztendlich trainieren wir Selbstständigkeit: üben rauszugehen, üben einzukaufen, üben den Tag zu planen, üben die Aufgaben zu strukturieren, üben den Haushalt zu führen. Und das so lange, wie es dauert.


    Klara, es ist wahnsinnig, was ihr immer wieder auf Dauer leisten müsst. Wie schafft ihr das :?:
    Ihr Eltern habt ja kaum noch ein eigenes Leben.


    Uns wurden damals vom Sozialamt nur wenig Stunden genehmigt mit der Begründung, dass unser Sohn zu Hause lebt und gut im Familiensystem integriert sei und somit wir Eltern die Unterstützung und Hilfe für unseren Sohn leisten müssen. Übersetzt heißt das, Eltern müssen, solange das KInd zu Hause lebt, sämtliche Bereiche abdecken.
    Das ist Gift für einen behinderten jungen Mann über 20, der ein Recht auf Abnabelung vom Elternhaus und ein eigenes Leben hat.
    Mein Sohn ist sehr frustriert darüber, denn er hat einen enorm großen Drang nach Freiheit und Selbständigkeit. Tja, aber das Sozialamt favorisiert aus Kostengründen Muttis Rockzipfel :thumbdown:


    Doch zurück zu den Ängsten? Ja, wir haben eine Lösung, eine dubiose WG-Lösung. Doch sie kann ja nicht immer sein. Was ist, wenn der junge Mann plötzlich allein dasteht, ohne die ganzen Assistenzen? Vielleicht sogar ganz ohne Familie, denn mein Mann und ich sind nicht für immer für ihn da. Dann ist er ganz allein. Wirklich ganz allein. Das macht mir Angst, das macht meinem Mann Angst und das macht dem jungen Mann Angst


    Ich kann diese Ängste total gut nachvollziehen. Die Angst vor der Zukunft. Wie geht es weiter? Was kommt noch? Was passiert, wenn wir Eltern nicht mehr da sind? Solche Ängste liegen wie Blei auf den Schultern.
    Dieses System ist so zum <X In Deutschand gibt es so viele Hilfen, aber man muss kämpfen bis zum Umfallen, bis man sie erhält, wenn man sie denn überhaupt erhält. Wenn wir Eltern nicht mehr da sind, kämpft niemand mehr für unsere Kinder. Wer kämpft für die Menschen, die niemanden an ihrer Seite haben?


    Wir suchen uns Leute, die ihm vertraut sind, die bereit sind, im Notfall Ansprechpartner zu sein. Und es passiert das, was leider oft passiert: die verschwinden aus seinem Leben, ziehen weg, wenden sich ab, haben ihr eigenes Leben, in die so ein Anruf im Notfall nicht mehr passt.


    Ja, das ist wirklich ein Problem. Ist uns leider auch schon passiert. Neue Hilfen bzw. Betreuer zu finden ist nicht einfach und man muss jederzeit damit rechnen, dass sich das Leben dieser Menschen durch Studium, Partnerschaft, Wegzug usw. ändert.
    Das bringt das mühsam aufgebaute System immer wieder ins Wanken oder zum Zusammenbruch.


    Die bieten sogar für einen Studenten, der ähnlich gestrickt ist wie Ellas Sohn - in Bezug auf die Planung des Tagesablaufes - nur lächerliche 7 Stunden Eingliederungshilfe,


    Du meinst sicher 7 Stunden Eingliederungshilfe in der Woche, oder? Uns wurde damals gesagt, dass 7 Stunden in der Woche schon stark an der Obergrenze kratzen, aber bei einer Studienassistenz müssten doch andere Bestimmungen greifen.


    Alles, was ich tun kann, ist, dir viel Kraft und Durchhaltevermögen zu wünschen. :coffee<3
    Leider ist das nicht viel. Die Menschen, die einen das Leben erleichtern könnten, sitzen an ihren Schreibtischen und verschicken schon die nächsten Ablehnungen und Kürzungen. :thumbdown::motzen

  • 7 Stunden die Woche wäre für mich persönlich ein Traum...
    Ich würde maximal 2 Stunden ambulante Betreuung die Woche bekommen... Was das helfen soll, weiß ich allerdings auch nicht. Abgesehen davon das gewünscht wird, das ich doch in die Dienststelle dann komme und nicht jedes Mal jemand zu mir nach Hause kommt.
    Sieht hier noch jemand einen katastrophalen Denkfehler???

  • Nein. Einen Bescheid gibt es nicht. Bisher hab ich davon nichts beantragt.
    Warum soll mein Mann für eine Hilfe zahlen (auch wenn es nur anteilig ist), die mir sinnlos erscheint?
    Ich wollte das bisher auch nicht glauben, aber mein gesetzlicher Betreuer hat auch gemeint, das es nicht mehr als 2 Stunden werden.


    Aber naja... Werde mal abwarten. Evtl. wird das ja was mit einem Pflegegrad und dann sieht es vielleicht etwas anders aus...

  • Klara, es ist wahnsinnig, was ihr immer wieder auf Dauer leisten müsst. Wie schafft ihr das
    Ihr Eltern habt ja kaum noch ein eigenes Leben.


    Hallo, Ella,


    endlich kann ich meine To-do-Liste um ein paar Punkte reduzieren, denn endlich antworte ich dir mal *pfeif*


    Also, doch, wir haben noch viel eigenes Leben. Wir nutzen die Wochenenden einfach intensiver - und wir telefonieren jeden Abend, wenn mein Mann von der Arbeit kommt, oder bevor er ins Bett geht. Es sind ja erst ein paar Monate und derzeit ist auch eine lange vorlesungsfreie Phase und wir müssen nur zu den Prüfungen zur Uni und genießen es sonst zu Hause. Klar, das Lernen organisieren und das neue Semester vorbereiten, das muss ich auch. Aber ansonsten kann ich in Ruhe alles abarbeiten, was so liegen geblieben ist und ich kann die Aufträge, dir reingekommen sind, viel entspannter abschließen.


    Und wir schaffen das auch nur, weil wir einfach machen und nicht - mehr - viel drüber nachdenken. Zuerst hat mir das viel Angst gemacht und ich dachte, ich würde das nicht leisten können, doch es ist nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Nur schrecklich langweilig, so in den Vorlesungen und so. Nur wenn ich das nicht mache, dann keiner. Oder höchstens ein paar Stunden die Woche und dann sind wir wieder beim "Recht auf Verwahrlosung". Es gab also wenig Alternativen. Will ich, dass mein Sohn wieder unter Menschen kommt, dann muss ich das unterstützen. Ansonsten landet er mit seinen Begabungen in so ner Behindertenmaßnahme, also einer Werkstätte. Und das geht nicht, da versuchen wir lieber, jetzt zu schauen, ob es nicht anders geht. Klappt es auf Dauer nicht, dann hat er es wenigstens versucht und vielleicht schon andere Wege für sich gefunden. Es wird sich zeigen.


    Zitat von Ella: "Du meinst sicher 7 Stunden Eingliederungshilfe in der Woche, oder? Uns wurde damals gesagt, dass 7 Stunden in der Woche schon stark an der Obergrenze kratzen, aber bei einer Studienassistenz müssten doch andere Bestimmungen greifen."


    ... genau, pro Woche. Doch bei über 40 notwendigen Stunden. Ob es was anderes gibt? Habe ich derzeit keine Lust, das anzuschieben. Wir sind seit 2014 vor Gericht wegen der Finanzierung der Eingliederungshilfe. Es gab noch keinen Gerichtstermin, nur ein Hin- und Hergeschreibsel.

    ........................................
    Liebe Grüße von Klara


    "Das, was mich behindert,
    damit lerne ich zu leben.
    Der, der mich behindert,
    der lässt mich im Leben leiden."


    © Klara Westhoff